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Dry Cleaning Album "New Long Leg"

Gullick

Dry Cleaning lehren uns den heißkalten Sprechsing-Boogie

Wieder ein tolles Post-Punk-Album, wieder kommt es aus Südlondon, diesmal von der Band Dry Cleaning und ihrer Sängerin Florence Shaw.

Von Christian Lehner

Am Anfang war das Wort. Dann kam Gil Scott-Heron. Später der Rap. Dann gab und gibt es immer wieder große gesprochene Musik von Laurie Anderson, Leonard Cohen, Mark E Smith (The Fall), Nick Cave, Billy Nomates, Neil Tennant (Pet Shop Boys), Jason Williamson (Sleaford Mods), Isaac Wood (Black Country, New Road), Kate Tempest, James Murphy (LCD Soundsystem), Anne Clark und vielen mehr.

Und jetzt gibt es den Sprechgesang von Florence Shaw. Trocken, ausdrucksarm, vortragend und doch mit einer Wucht, als würden uns sämtliche Zeichen, die wir so an einem Tag in unsere Eingabegeräte hämmern, wie ein Schwarm Gelsen um die Ohren fliegen. Das liegt an den Wörtern.

Hier zur Einführung – und weil diese Site keine Zeichenlimits kennt – der vollständige Text der ersten Single „Scratchcard Lanyard“ aus dem neuen Album „New Long Leg“ von Dry Cleaning:

Many years have passed but you’re still charming
Rose falling and exploding
And you can’t save the world on your own
I guess
Don’t send me it
You keep it
You keep it
You keep it
Weak arms, can’t open the door
Kung fu council
It’ll be okay, I just need to be weird and hide for a bit
And eat an old sandwich from my bag
I’ve come here to make a ceramic shoe
And I’ve come to smash what you made
I’ve come to learn how to mingle
I’ve come to learn how to dance
I’ve come to join your knitting circle
I’ve come to hand-weave my own bunkbed ladder
In a few short sessions
It’s a Tokyo bouncy ball
It’s an Oslo bouncy ball
It’s a Rio de Janiero bouncy ball
Filter, I love these mighty oaks, don’t you?
Do everything and feel nothing
Wristband, theme park, scratch card, lanyard
Do everything and feel nothing
Do everything and feel nothing
Pat dad on the head
Alright you big loudmouth
And thanks very much for the Twix
I think of myself as a hearty banana
With that waxy surface
And small delicate flowers
A woman in aviators firing a bazooka
A woman in aviators firing a bazooka
I’ve come here to make a ceramic shoe
And I’ve come to smash what you made
I’ve come to learn how to mingle
I’ve come to learn how to dance
I’ve come to join the knitting circle
That’s just child chat
Why don’t you want oven chips now?
It’s a Tokyo bouncy ball
It’s an Oslo bouncy ball
It’s a Rio de Janiero bouncy ball
Filter, I love these mighty oaks, don’t you?
Do everything and feel nothing
Wristband, theme park, scratch card, lanyard
Do everything and feel nothing
Do everything and feel nothing
You seem really together
You’ve got a new coat
New hair
Well, I’ll tell you one thing
You’ve got it coming
One day, you’re gonna get it
Ha

„Es steckt viel Gewalt in diesem Text“, sagt Florence Shaw im FM4 Interview. „Ein Freund meinte, dass es hier wohl um Rache geht. Ich wollte ihm nicht widersprechen.“ Im Unterschied zu vielen Songschreiber*innen zieht sich Shaw nicht auf die Position der Interpretationsverweigerung zurück. Eine Gebrauchsanleitung, wie ihr Zeichensalat zu verdauen ist, bekommt man trotzdem nicht. „Ich schreibe impulsiv und ich verwende auch Lines, die ich irgendwo aufgeschnappt habe. Der tiefere Sinn wird sich für mich wohl erst in einigen Jahren erschließen. Vielleicht steckt aber auch gar keine Bedeutung hinter den Texten.“

„Do everything and feel nothing“ - ein Pop-Lyric des Jahres

Kann man so stehen lassen. Muss man aber nicht. Die Lyrics lassen sich ohne weiters als getarnte Beziehungsdramen lesen. Es gibt hier ziemlich viele miese Typen und Shaw will Blut sehen. Damit das nicht umgehend zu einer Verhaftung durch Scotland Yard führt, streut Florence Shaw Alltagsbeobachtungen, Slogans und scheinbar sinnlose Satzkonstruktionen auf den Giftkuchen. Dass gerade diese collagierten Lyrics erstaunlich treffende Bilder über unsere Zeit produzieren, ist ein starkes Nebenprodukt von Shaws Texten.

Dry Cleaning Album "New Long Leg"

Ed Miles

Oder: Beim Durchforsten der Lines schlägt der Brexit-Detektor, den man dieser Tage bei jeder britischen Band einschaltet, lange nicht an, doch wenn im Song „Strong Feelings“ aus den Wortreihen ein akzentuiertes „It’s Europe, it’s Europe“ hervortönt, baut sich zwischen den Ohren die Assoziation wie von selbst zusammen. Heiliges Brüssel, es ist ein Bekenntnis!

Diese kognitiven Widerhaken finden sich in vielen Texten. Shaw gibt zu Protokoll, dass sie sich für ihre Position als Frau in dieser Welt interessiert und für die Ordnungssysteme unserer Gesellschaft. Entfremdung ist ein Stichwort, das nicht nur im Original-Post-Punk der späten 1970er und frühen 1980er groß geschrieben wurde.

Rauchten bei den Altvorderen wie Joy Division und The Fall im Hintergrund der Musik noch Fabrikschlote, so nimmt Florence Shaw Platz im prä-pandemischen Großraumbüro. Mit einer Mischung aus Kafka und Gervais („The Office“) geraten Hierarchien und ihre absurden Symbole in den Fokus. Der Titel des oben erwähnten Songs „Scratchcard Lanyard“ ist eine Wortschöpfung, die sich aus den Begriffen „Rubbellos“ und „Umhängeband“ zusammensetzt. Das Los steht für Willkür und Zufall, das Band für den Zugang zu Macht und Konsum. Die Aufwertung der Existenz erfolgt über das Umhängen einer Plastikkarte. Am Lanyard baumelt die Zugangsberechtigung zum Job, zum Geld, zum Freizeitvergnügen. So werden diese schnöden Bänder zum Statussymbol und Distinktionsmerkmal. Alle, die schon einmal einen Festivalpass um den Hals getragen haben, kennen das Gefühl.

Dry Cleaning Album "New Long Leg"

4AD

„New Long Leg“ ist auf 4AD erschienen. Hier geht’s zum FM4 Interview-Podcast mit Dry Cleaning, hier zu einem weiteren Porträt.

„Ich finde es erstaunlich, dass so etwas Rudimentäres wie ein Kartenband einen eigenen Namen hat“, sagt Florence Shaw. „Als ob es eine Spezies wäre.“

Oder: Mit der Zeile „Do everything and feel nothing” hat sich Shaw schon jetzt für die fiktive Grammy-Kategorie „Zeitgeist-Lyric des Jahres“ qualifiziert. 2021 ist bisher nichts ähnlich Schlagendes in die Welt der Popmusik entlassen worden.

Kurz noch zur Musik

Die feine künstliche Aufregung findet bei Dry Cleaning ohne die negativen Begleiterscheinungen Bluthochdruck und Selbstgerechtigkeit statt. Bassist Lewis Maynard, Drummer Nick Buxton und Gitarrist Tom Dowse knüpfen für Shaws Texte einen Soundteppich, der, wenn es besonders pumpt, eher an Weißrot-Boogie erinnert als an Weißbrot-Funk.

Man hört die noble Zurückhaltung dieser drei sehr versierten Geräuschmänner, die sich dem Vernehmen nach früher am Hardcore abgearbeitet haben. Sie drücken an den richtigen Stellen an, nur selten schwappt der Sound über die Worte. Simpel ist hier alles. Man freut sich gerade deshalb auf entfesselte Konzerte, wenn diese wieder stattfinden können.

„New Long Leg“ ist das Debütalbum des nicht mehr ganz so jungen Quartetts aus Südlondon. Mit der frischen Szene rund um den Windmill Club haben Dry Cleaning übrigens nichts zu tun. In Sachen Dringlichkeit stehen sie den Venue-Post-Punks von Goat Girl, Black Midi, Shame, Sorry, Black Country, New Road aber in nichts nach.

Wer hier gähnt, ist schon lange nicht mehr wach.

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