„Temple of Refuge“: Ein Comic reißt die Festung Europa ein
Von Paul Pant
Die Comicgeschichte von Sartep Namiq beginnt in einem blühenden Land. Ein Liebespaar sitzt auf einem Hügel vor einem See. Auf nur einer Seite zieht ihr Leben vorüber. Ein Sohn wird geboren. Der See trocknet aus, die Bäume sterben, das Land wird zur Wüste. Der Sohn wird zum Flüchtling. In einer endlosen Schlange ziehen die Menschen Richtung Europa.
Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021
Am Ende der gefährlichen Flucht steht der Flughafen Tempelhof vor einem futuristischen Berlin, das zur Festung geworden ist. Die Mauer geht nicht mehr quer durch die Stadt, sondern rundherum. In den Flüchtlingscamps vor Berlin regiert Willkür und Gewalt. Die Menschen darin resignieren.
Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021
Sartep Namiq kennt die Resignation der Geflüchteten aus dem wirklichen Leben. Der junge Kurde ist aus dem Irak vor dem IS geflohen. Ein Jahr lang hat er in einem Hangar in Berlin Tempelhof gelebt. Ohne Kontakte nach draußen, ohne Arbeit und ohne Möglichkeit, einen Sprachkurs zu besuchen. In dieser Notunterkunft hat Sartep Alexander Koch kennen gelernt.
Koch ist Direktor der „Gesellschaft der Neuen Auftraggeber“. Diese Organisation initiiert und betreut Kunstprojekte, schlägt Brücken zwischen normalen BürgerInnen und KünstlerInnen. Alexander Koch fungiert dabei als Mediator. Er hilft den Menschen, die mit Hilfe einer künstlerischen Intervention etwas verändern, oder auch ein Problem, eine drängende Frage artikulieren wollen. Das Ziel: daraus Kunstwerke zu entwickeln. Die Form bleibt dabei offen, egal ob Fotografie, Film, Malerei, Theater, Architektur, Musik oder Literatur.
Die neuen Auftraggeber
Die Idee hinter den Neuen Auftraggebern ist ein Kunstmanifest des franzöisch-belgischen Künstlers François Hers. 1990 schlug er mit seinem „Protokoll der Neuen Auftraggeber“ ein neues Modell der Produktion zeitgenössischer Kunst vor. Statt Mäzenatentum soll jeder Mensch ein Kunstwerk beauftragen können.
Im Berliner Comicladen „Grober Unfug“ wurden Zeichenstile und Stories recherchiert. Die Wahl fiel dann auf ein Science-Fiction-Setting und den Künstler Felix Mertikat. Mertikat ist mit seiner preisgekrönten Steampunk-Saga „Steam Noir“ bekannt geworden und hat sich vor allem in der Rollenspielszene einen Namen gemacht. Für die Story-Entwicklung konnte dazu die Cyberpunk-Legende Bruce Sterling gewonnen werden. Dieser traf Namiq in seiner Flüchtlingsunterkunft in Tempelhof. Aus ihren Gesprächen entstand ein erster Entwurf der Geschichte, der von Christopher Tauber und Matthias Zuber überarbeitet wurde.
Die Autoren und Die Gesellschaft der Neuen Auftraggeber GNA gGmbH, 2021
Herausgekommen ist mit „Temple of Refuge“ ein farbenfrohes Science Fiction-Märchen, das ohne Worte funktioniert. Der geflüchtete Sohn ist auf seiner Reise zum Künstler gereift. Im Slum von Tempelhof erschafft er durch seine Bilder und Vorstellungskraft eine Utopie, die den Menschen wieder Hoffnung und Werkzeuge in die Hände gibt, für eine bessere Zukunft in der Mauern eingerissen werden.
Publiziert am 23.04.2021