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Current Joys

Brooke Barone

Always searching, never finding

Mit „Voyager“ legt der amerikanische Musiker Nick Rattigan als Current Joys ein sehr gutes Album vor. „Indie“ im Spirit, wenn auch nicht gemäß Veröffentlichung. Es erscheint via Secretly Canadian.

Von Lisa Schneider

Vielleicht kann man Nick Rattigan und seine Musik anhand eines Songs erklären. Vielleicht am besten mit dem kratzig in Lo-Fi gehaltenen Lied „New Flesh“, zu finden auf dem 2013 veröffentlichten Album „Wild Heart“. „I listened to The Cure and then I cried“, so die Eröffnungszeilen. Nick Rattigan zitiert seine musikalischen Helden gern sehr direkt, oft aber mehr über den Inhalt als über die Musik. Das Grundgerüst ist schlicht, zentral immer eine kurze, sich wiederholende Gitarrenmelodie. Nach dem Zwinkern Richtung Robert Smith geht es in besagtem Lied mit Zeilen wie einem trotzig hingeworfenen „’til I die“ weiter, die Nick Rattigan aber sofort auf „DIY“ reimt. Große Angstzweifel und ihre sofortige Relativierung, da schreibt jemand, der Zynismus gegen selbstreflexive Ironie getauscht hat. Der Ernst und der Wahnsinn und mittendrin ein gutes Lied.

Eine Empfehlung für Menschen, die sonst auch gern die Musik von Night Moves, Sandy Alex G oder Amen Dunes hören. Von Acts also, die sich in schwermütig schöner Weise auf ihre Gitarren verlassen. Und weil sie das aber so easygoing machen, merkt man oft gar nicht, dass sie irgendwie immer ein bisschen vom Weltuntergang singen.

Picasso, Bars & Filme

Nick Rattigan, Jahrgang 1982, wächst zunächst in Reno, Nevada auf. Später zieht er nach New York, um als Produktionsassistent in einer Filmfirma zu arbeiten, seit 2016 lebt und arbeitet er in Los Angeles. „Picasso and bars“ waren die zwei Ankerpunkte, die ihn schließlich zur Musik gebracht haben, erzählt er im FM4 Interview. Vom einen war er schon sehr früh fasziniert („I saw his paintings and was like: I’m gonna be an artist“), in den zweiten hat er seit seinen späten Teenagerjahren die meiste Zeit verbracht, „playing shows and singing songs while also hopefully creating some expression“.

Projekte - und Namen - gab es viele. Nick Rattigan hat Musik etwa als The Rattigan Project und später als TELE/VISIONS veröffentlicht, eine Handvoll weitere Seitenprojekte nicht miteingerechnet. Das alles ist (fast) unnötiges Wissen: Die Hörer*innen haben es gemütlicherweise leicht, weil Nick Rattigan auf all den Streamingdiensten des Vertrauens seine Alben unter dem Namen Current Joys mittlerweile neu veröffentlicht hat.

Das Hineinschnuppern in die Filmindustrie damals in New York war nicht nur ein kurzer Zeitvertreib. Nick Rattigan ist „a cinephile“, wie er selbst sagen würde. Während dem Interview deutet er mehrmals hin, nicht auf das im Homeoffice sonst so obligatorische Bücher-, sondern auf sein VHS- und DVD-Regal. Wir werden später noch über „the holy trinity“ Springsteen-Young-Reed sprechen, viel öfter, und offenbar viel lieber auch, lenkt Nick Rattigan den Gesprächsfaden hin zu den Filmen, die ihn aktuell begeistern und beeinflussen. Seinen Job in der Filmbranche hat er zwar geschmissen, für sich aber eine Art Zwischending gefunden. 2013 hat er erstmals bei einem Musikvideo (zum Song „123“ von Girlpool) selbst Regie geführt. So auch beim kürzlich veröffentlichten Video zur Current-Joys-Single „Amateur“.

Langsam beginnt es, mit statischer Kameraeinstellung, und da haben wir auch wieder das eine wichtige musikalische Motiv, diesmal am Klavier gespielt. Auf diesem wahrscheinlich besten Lied des neuen Albums „Voyager“ wiederholt sich die oben aufgestellte These von Nick Rattigans einfach konstruierten, aber groß gedachten Songs. Der gesamte Text besteht noch dazu nur aus einer einzigen Zeile, was man gar nicht merkt, zuerst, und auch das ist große Kunst: „You’re every song I love / can’t get away from“. Abhandlungen will man schreiben über diese elf Wörter, steckt doch alles drin. Der geliebte Mensch bekommt ein Lied gewidmet, das gleichzeitig alle Lieder ist. Und das trotzdem so minimalistisch gehalten ist, weil die größte Zuneigung in dieser Essenz liegt. Ein Anthem, nichts weniger, live wird das sehr gut funktionieren. Zum Mitsingen gedacht.

Streicher, Bläser, das volle Programm

Auf „Voyager“ schreit niemand mehr „DIY“ ins Mikro, nicht mal im übertragenen Sinn. Schreibt er einen Song Marke sanft-krautiger Surfrock, nimmt Nick Rattigan ihn mit seiner eben auch deshalb so benannten, zweiten Band auf. Sie heißt Surf Curse. Mit Bandkollegen Jacob Rubeneck ist er auch im Zuge ihrer letzten Aufnahmen das erste Mal in einem gut ausgestatteten Studio gelandet - und war begeistert. Bis dahin hat der DIY-Spirit, den Nick Rattigan mit all seinen vorangegangen Releases so streng - und stur, wie er sagt - verteidigt hat, genau das verhindert.

Jetzt aber also der Plan: Auch das nächste Current-Joys-Album nicht allein im Homestudio, sondern mit größtmöglicher Instrumentierung bzw. Orchestrierung aufzunehmen. Bisschen Hochglanz. Keine Garagen-Atmosphäre mehr, aber trotzdem noch ein kleines Gefühl von Intimität, unter anderem zu finden am Song „American Honey“. Da hören wir Nick Rattigan anfangs ein „One, two“ ins Mikro murmeln, als stünde er gerade da und das wäre tatsächlich der erste und letzte Take des Lieds, den wir da serviert bekommen. Know-how.

„Voyager“ erscheint außerdem als erstes Album von Current Joys auf Secretly Canadian, neben guten Labelkolleg*innen wie Porridge Radio, Alex Cameron oder Skullcrusher.

Königsdisziplin: elegant untergehen

„Who is he?“, überlegt auch Nick Rattigan am anderen Ende der Leitung kurz, gefragt nach dem Reisenden im Albumtitel. „I think exactly that: a traveller of worlds, times, emotions, someone who is always searching, but never quite finding.“

Er zupft eine VHS-Kassette aus dem Regal. Es ist Volker Schlöndorffs „Voyager“, uns besser bekannt unter dem deutschen Titel „Homo Faber“. Eine Literaturverfilmung aus dem Jahr 1991 nach der Romanvorlage von Max Frisch. Auf dem Album „Voyager“ geht es nicht um den Gegensatz Technik-Natur, den Frisch da herausgearbeitet hat, aber um weitere, zentrale Motive des Romans (und des Films), vor allem um den ewigen Konflikt zwischen persönlicher Identität und sozialer Rolle.

Current Joys Albumcover "Voyager"

Secretly Canadian

„Voyager“ von Current Joys erscheint via Secretly Canadian.

Das Scheitern an diversen Erwartungshaltungen personifiziert Nick Rattigan auf vielen Liedern des Albums, wir haben da nicht nur den erwähnten „Amateur“, sondern auch den „Dancer in the dark“ (keine Springsteen, sondern Lars-von-Trier-Referenz!) oder den „Vagabond“. Hier wird mit existenzialistischen Perspektiven gespielt, ohne dabei das „male ego“ zu vergessen, zu übergehen, oder zu überhöhen.

„The male identity is something that’s so problematic for centuries and years, talk about like ego, death, or looking into what it means to be male in 2021“, antwortet Nick Rattigan auf die Frage, wie er seine Position als männlicher Künstler aktuell beschreiben würde. Seine Antwort schweift einmal mehr ab in Richtung Film, diesmal zitiert er den amerikanischen Regisseur John Cassavetes und seine vor allem im Film „Husbands“ schrecklich-brutal dargestellte Form von Männlichkeit. „I think looking at that and putting it under a microscope and being aware of it is so important. Just like: listening, understanding the world from a different perspective.“

Auch nur ein Mensch

Beim Release des letzten Albums („A Different Age“, 2018) hat Nick Rattigan in Interviews von einer ewig mühsamen Schreibblockade erzählt. Er erwähnt sie auch jetzt, wenn es darum geht, welche Verantwortung er als Musiker trägt. „I get crazy messages like: ‚This song is so important to me!‘ And I’m like: Well, who the fuck am I to be influencing anyone? I’m a human being with views and anxieties and fears and all these things.“ Er lacht kurz. Das ist gut gesagt, wir sind hier aber auch zurück bei der Ironie. Natürlich fühlt sich Nick Rattigan gleichzeitig geschmeichelt.

Musik als ultimative Projektionsfläche: Da hört man ein Lied und denkt sich selbst als Hauptcharakter hinein. Da, wo dann eben Dinge passieren, die man schwer oder gar nicht in Worte fassen kann. Vielleicht ist das eine von vielen Definition des richtig guten (Pop-)Songs. Auf „Voyager“ wird sie eingelöst.

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