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Eine junge Schwarze hält eine Muschel an ihr Ohr. Filmstill aus "Victoria".

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Die Menschen auf Erden: Faszinierende Lebenswelten beim Ethnocineca Festival

Vom Rechen kalifornischer Wüstenstraßen, familiären Revolutionen und der Abschaffung der Nacht: Das internationale Filmfestival Ethnocineca präsentiert von 6. bis 13. Mai herausragende Dokus online und birgt fantastische Einblicke. Eine Vorschau mit Empfehlungen.

Von Maria Motter

Das internationale Dokumentarfilmfestival Ethnocineca findet für gewöhnlich in den Wiener Kinos statt. Doch dieses Jahr kann das Programm gestreamt werden: Die 15. Ausgabe findet von 6. bis 13. Mai online statt. Zwanzig außergewöhnliche, eigenwillige Langfilme und fünf Kurzfilme sind zu sehen. Darunter sind viele Österreichpremieren von Filmen, für die man sonst zu großen Festivals reisen müsste. Diese Filme sind eigentlich für die Kinoleinwand gemacht.

Eröffnet wird das 15. Ethnocineca Dokumentarfilmfestival mit „Treshold“: Die brasilianische Filmemacherin Coraci Ruiz hält in dem sehr persönlichen Film die Entwicklung ihres ersten Kindes fest. Sie hat das Mädchen zur Welt gebracht und ihr den Namen Violeta gegeben. Aber Violeta wird für sich den Namen André wählen und der Mutter schließlich mit siebzehn erklären, am liebsten als nicht-binär verstanden werden zu wollen, also sich nicht entweder als Mann oder als Frau definieren zu müssen. „Und wie ist es, ein Bub zu sein?“, fragt die Mutter den Teenager. Die Antwort ist ein schüchternes Lächeln, dann die klare Bitte: „Frag das nicht, das ist sehr individuell“.

Ethnocineca Online Edition 2021
Alle Filmen können für die jeweiligen zwei Streamingtage ausgeliehen werden. Das Rahmenprogramm ist kostenfrei.

Die Ethnocineca zeigt u.a. ethnographische Dokumentarfilme. Das heißt, die Filme stehen im Kontext der Ethnologie bzw. Kultur- und Sozialanthropologie: „Methodik und Repräsentionsethik nehmen einen hohen Stellenwert ein“, erklärt Hannah Hauptmann vom Festival Ethnocineca. „Die Filme sind meist von einer wissenschaftlichen Aussage über soziale, kulturelle oder politische Aspekte des menschlichen Zusammenlebens geleitet. Damit trägt der ethnographische Dokumentarfilm zum sozialwissenschaftlichen Diskurs bei und schafft ein Forum für gesellschaftliche Auseinandersetzung“.

Ein Teenager und eine Mutter schauen in einen Spiegel, der Teenager hält eine Zeichnung hoch, die Mutter die Kamera. Filmstill aus "Treshold".

Coraci Ruiz

Coraci Ruiz dokumentiert ihre Familienwelt während der Transition ihres ersten Kindes.

Der Eröffnungsfilm „Treshold“ ist liebevoll und offenherzig. Drei Generationen von Frauen sprechen miteinander über ihre Vorstellungen von Lebensentwürfen und diese kurzen, intensiven Passagen sind toll. Vor der eigenen Revolution in der Familie tritt das politische Geschehen in den Hintergrund. Die Großmutter wünschte sich in den 1970ern als junge Frau eine offenere Gesellschaft und lebte die Befreiung vom bürgerlichen Familienbild im Kibbuz. Aber sie ringt mit der Entscheidung ihres Enkelkindes. Die fließende, sehr nahe Home-Videocam-Ästhetik von „Treshold“ war schon in Dokumentarfilmen der 1990er Jahre sehr beliebt. Auch der Film „I love you I miss you I hope I see you before I die“ sieht so aus: Die Kamera klebt regelrecht an den Protagonist*innen, es gibt Nahaufnahmen von Natur als Stimmungsbilder. Das macht es schwer, ein größeres Bild zu gewinnen als das Familienporträt.

Die Menschen in „I love you I miss you I hope I see you before I die“ sind weiß, finanziell und psychisch sehr oft am Limit. Die US-Amerikanerin Betty ist zweifache Mutter, Anfang Zwanzig und sie teilt ihr Zuhause bei Colorado Springs mit zehn Erwachsenen und weiteren Kindern. Dreijährige löffeln ihr Essen aus der Konservendose, planschen in Pfützen und freuen sich über Kätzchen, während die Eltern jobben, träumen, sich zudröhnen und für ihre Bewährungshilfen bezahlen müssen. Die dänische Regisseurin Eva Marie Rodbro bemüht sich nicht um Distanz.

My Little Pony Spielzeug auf einer Decke und eine Kinderhand. Filmstill aus "I love you I miss you I hope I see you before I die".

Paloma Productions

„I love you I miss you I hope I see you before I die“ erlaubt keine Distanz zum täglichen Lebenskampf einer weißen, US-amerikanischen, jungen Mutter zwischen Drogenmissbrauch und Fürsorge.

“There Will Be No More Night”

Noch weniger Entkommen vor der Zeugenschaft gibt es in „There Will Be No More Night“ von Eléonore Weber. Die Doku ist bis auf eine Szene komplett aus der Perspektive von Bordkameras US-amerikanischer und französischer Militärhubschrauber während deren Einsätzen in Syrien, im Irak und in Afghanistan montiert. Grau-Schwarz ist die Welt, Menschen erscheinen leuchtend weiß und das Sucherkreuz der Kriegssoftware ist manchmal ein Rechteck. „There Will Be No More Night“ zeigt das Aufspüren, Beobachten und Töten von Menschen, während eine Frauenstimme im Off Tatsachen festhält: Es gibt immer jemanden hinter der Kamera, der zusieht und aufnimmt.

Die Stimme berichtet auch, was ihr ein Pilot gesagt hat. Etwa, dass die ganz nahen Zooms nur wenige Augenblicke dauern, in denen selbst Muster der Kleidung der Beobachteten erkennbar werden und dem Piloten leicht übel würde. Die Atmosphäre in den Hubschrauber dringt nur ab und zu durch. Vom Geschehen am Boden sind die Piloten abgeschnitten. „There Will Be No More Night“ ist faszinierend und schockierend, inklusive des Ausblicks am Ende des Films: Die neue Technologie schafft die Nacht ab. Die Menschen unten auf der Erde werden sich in der Dunkelheit wähnen, während die Mächtigen in der Luft sie mit großer Klarheit kommen sehen.

Blick durch eine Kamera in einem Militärhubschrauber, die die Nacht zum Tag macht.

Filmmotor

„There Will Be No More Night“ blickt durch Militärkameras auf Kriegsgebiete.

“Victoria“: Eine Frohnatur in einer Geisterstadt

Ein absolutes Highlight im Programm des diesjährigen Ethocineca Festivals ist „Victoria“: Der Protagonist Lashay Warren ist eine Frohnatur. Auch noch, wenn er tagelang vom Wüstensand verwehte Straßen in California City recht, um den Entwicklungstraum eines anderen Mannes am Leben zu halten. „The desert ist Gucci“, sagt er, fordert eine Schildkröte zum Wettrennen auf und ist nie schmähstad. Der vierfache Vater Lashay Warren ist mit seiner Familie und dem Schoßhündchen von Los Angeles in ein offensichtliches Niemandsland gezogen, dessen Straßennetz ein gewisser Nat Mendelsohn 1958 wie am Reißbrett angelegt hat. California City ist die drittgrößte Stadt in Kalifornien, betrachtet man rein die Fläche. 10.000 Einwohner*innen versuchen dort ihr Glück. Lashay Warren ist einer von ihnen und er hofft, jetzt endlich und noch vor seinem 26. Geburtstag die High School nachzuholen.

Lashay Warren steht in der Wüste und blickt über das Land. Filmstill aus der Doku "Victoria".

Caviar

Lashay Warren recht vom Winde verwehte Wüstenstraßen: „Victoria“ ist wunderbar.

„Victoria“ ist die Arbeit von drei jungen belgischen Filmemacherinnen und so kafkaesk wie wunderschön. So elegant und unterhaltsam wie hier der amerikanische Traum verhandelt wird, das wird lang in Erinnerung bleiben.

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