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Blond von Joyce Carol Oates

Ecco Press

„Blond“: das literarisch verdichtete Leben der Marilyn Monroe

Joyce Carol Oates zeichnet in „Blond” eine andere Marilyn Monroe, als die, die wir kennen. In der fiktiven Biografie - die Autorin nennt es, literarisch verdichtetes „Leben“‘ - vermischt sie gesicherte, genau recherchierte Quellen mit erfundenen inneren Monologen.

Von Boris Jordan

Pünktlich zur Neuverfilmung von „Blond“ für Netflix, die noch heuer zu sehen sein wird, ist jetzt eine Neuauflage von Joyce Carol Oates’ Opus Magnum aus dem Jahr 2000 erschienen. Darin zeichnet sie ein noch schärferes Bild von jemandem, von dem es schon zu Lebzeiten mehr Bilder gab als von allen Anderen. „Blond“ ist eine Biographie der Psyche einer Frau, beispielhaft für die Männergesellschaft.

Norma und Gladys

Zur Zeit der Santa Ana Winde lebt das kleine, dünne Mädchen Norma Jean Baker mit ihrer Mutter Gladys in einem kleinen Hotelappartment in der Highland Avenue in Los Angeles. Kurz davor hatte das Mädchen ihre geliebte Großmutter, Della Monroe, die sie auf einem Heimurlaub von ihren Pflegeeltern besucht hatte, sterbend am Boden vorgefunden.

Blond von Joyce Carol Oates

Ecco Press

„Blond“ von Joyce Carol Oates ist in einer überarbeiteten Neuausgabe aus dem amerikanischen Englisch übersetzt von Uda Strätling, Sabine Hedinger und Karen Lauer im Ecco Verlag erschienen.

Gladys arbeitet in einem Kopierwerk für Filme und liebt die Leinwand. Sie liebt Filmstars, Glamour, die „dunklen Prinzen“ Paul Muni, Fred Astaire, Gary Cooper, Charles Boyer. Ihre Tochter, die später der größte Filmstar des Jahrhunderts werden sollte, liebt sie nicht. Sie kann die Suche des Mädchens nach Nähe und Berührung nicht ertragen, sie gibt ihr die Schuld an ihrem kleinen Leben, an all den verpasste Gelegenheiten für Ruhm und all den versäumten Männern, die sie hätte haben können, die von ihr fasziniert waren, als sie noch jünger war.

Einer dieser „dunklen Prinzen“, so erzählt Gladys oft, sei der Vater der kleinen Norma, ein großer Mann in Hollywood. Wer das ist, verrät sie nie. Marilyn Monroe sollte zeitlebens nach ihm suchen, nie würde sie ihn kennen lernen.

Gladys ist paranoid-schizophren und sollte nach ihrer Einweisung in eine psychiatrische Anstalt diese bis zu ihrem Tod nicht mehr verlassen. Normas Kindheit wird zu einer Irrfahrt auf der Suche nach Bindung und Vertrauen, die nicht selten an Grenzen stößt. Ihrer psychisch kranken Mutter wird sie weggenommen, im Waisenhaus wird ihr von einer Nonne die „Christliche Wissenschaft“ eingeredet: die weibliche Periode sei böse, und ihre Schmerzen nur Einbildung, sie würden durch Beten gelindert.

Von der nächsten Pflegemutter, zu der sie Vertrauen gefasst hatte, wird sie in eine jugendliche Ehe gedrängt, weil diese bemerkt hatte, dass ihr Mann nur mehr Augen für das schöne Mädchen hatte. Wie alle männlichen Wesen, denen sie je begegnen sollte. Wie der Literaturlehrer, den sie als Freund sieht, und der sich – über sein eigenes Begehren erschrocken – von ihr abwendet. In der Kinderehe versucht sie Hausfrau zu sein, bieder glücklich zu werden, wie es sich gehöre, doch ihr Ehemann hat kein Verständnis für ihre gleichzeitige Model-Karriere. Sie bemerkt, dass ihr Aussehen ihr – vor allem bei Männern - eine ungeahnte Macht verleiht, eine Perspektive bietet, dass die Suche nach Nähe und Liebe und Vertrauen doch zu einem Erfolg führen könnte. Sie wird alles erreichen, diese Liebe und Vertrauen jedoch nie finden.

Bombshell

Die großen Stationen in Monroes Leben sind bekannt. Arbeit in der Munitionsfabrik, Pin-Up für die Spinde der Soldaten im Weltkrieg, eine Nebenrolle bei John Houston, die Nacktfotos, der Manager, der stirbt, bevor er einen adäquaten Vertrag aushandeln kann, die vielen Gerüchte um die Besetzungscouch im Hollywood der großen Studio-Bosse, das „Bombshell“ Styling, die naiven Rollen, der einsame Status als beneideter Superstar, der Krieg mit den Studios und dem „Komitee“ von McCarthy, die Ehen mit Joe DiMaggio und Arthur Miller, die Freundschaft mit Lee Strasberg und Marlon Brando, die Drogen, die Launen, die Kennedys.

Joyce Carol Oates

Cohen

Joyce Carol Oates

Joyce Carol Oates begleitet das schüchterne, anfangs stotternde Mädchen Norma Jean Baker durch diesen Parforce Ritt. Wir sind dabei, wie das Kind Norma alleine im Kino sitzt und die Leinwandhelden – wie schon ihre Mutter - wie Ersatzgötter anbetet. Wie sie sich für ihren Körper schämt, geplagt von Endometriose, von den Folgen einiger Abtreibungen und einer Fehlgeburt, von extremen Regelschmerzen, die sie schamhaft wegzubeten versucht.

Wie sie sich vor dem für sie so konstitutiven Begehren der Männer ekelt. Wie sie mit den missratenen Söhnen von zwei großen Filmstars (Charlie Chaplin und Edward G. Robinson) in einer bisexuellen Dreierbeziehung lebt.

Sie bildet sich selbst, die Norma hinter Marilyn, der „blonden Darstellerin“. Sie liest Schopenhauer, Michael Tschechow und Stanislawski, schreibt zeitlebens Gedichte voller Naivität und Sehnsucht, sie strebt nach Intellektualität, Echtheit, Kunst und Sinn. Sie will die „große Schauspielkunst“, sie, der immer unterstellt würde, sie sei so überzeugend, gerade weil sie nicht spielen sich nicht verstellen, könne. Sie unterbricht ihre Hollywood Karriere um in New York „Method Acting“ zu studieren, legt sich mit einer eigenen Produktionsfirma mit den Studio-Bossen an und markiert – mitten in der McCarthy Ära – den Anfang vom Ende des Studiosystems Hollywood.

„Wenn ein Mann dich begehrt, bist du in Sicherheit“ (Norma Jean Baker)

Sie schläft nächtelang nicht und dafür tagelang durch, nimmt Aufwärtspillen, Abwärtspillen, Schlafmittel, Schnaps. Sie sucht Liebe und Unterstützung bei den verschiedensten Männern und stößt diese – verzweifelt und selbstzerstörerisch - wieder von sich. Sie alle hatten Marilyn begehrt und Norma nicht gekannt.

Wie in all den europäischen Märchen, wie im Film „der dunkle Prinz“, dem ersten, den Norma als Kind im Kino gesehen hatte, musste die Geschichte der strahlenden Prinzessin mit deren zu frühen Tod enden.

Bei seiner Erscheinung hat „Blonde“ vor allem deshalb Aufsehen erregt, weil Joyce Carol Oates offen darüber spekuliert, ob Marilyn Monroe im Auftrag von Robert Kennedy (im Buch: R.L.) umgebracht wurde.
Es könnte in einer Biografie über den Missbrauch von Frauen als Sexobjekte und Projektionsflächen in Hollywood auch um Jean Harlow oder Rita Hayworth oder Betty Grable gehen, doch die Größte, Zugänglichste und am meisten Beneidete ist exemplarisch die am heftigsten Scheiternde.

Wer versucht, Biographisches über Marilyn Monroe herauszufiltern, stößt an Grenzen, wer einen exemplarischen Einblick in die Psyche einer Respekt und Vertrauen suchenden - und dabei dauernd strauchelnden - Frau in einem gnadenlosen Männersystem erhaschen möchte, wird hier mehr als fündig.

Joyce Carol Oates nennt den 1000 Seiten Wälzer (das Manuskript soll doppelt so lang gewesen sein) „meinen ‚Moby Dick’“ - nur stünde dieser „Große Weiße Wal der Bedeutung“ nicht für die „blinde Kraft der Natur, sondern für die blinde Kraft der Künstlichkeit“.

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