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APA/AFP/Oli Scarff

ROBERT ROTIFER

Der Boris hat uns alle geimpft

Der britische Rechtspopulismus schickt Kriegsschiffe aus und gewinnt. Man muss nicht so tun, als wäre das normal

Von Robert Rotifer

Schauplatz: Ein zugemüllter Schreibtisch im Südosten Großbritanniens, in der Mitte davon Laptop auf Ständer, davor Tastatur (es ist besser so für den Rücken, lasst euch das sagen!), Kamera zoomt sich auf die Finger ein, die tippen genau das hier: Yes, I’m messing with your heads again, und bevor ich weiter schreibe, müsst ihr jetzt einmal kurz warten, weil ich geh in die Küche zum Radio, ess einen Toast und hör mir an, wie sie mir erklären, warum die Labour Party stirbt und der Boris jubiliert.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Gestern nämlich wurde in Großbritannien gewählt: In Schottland das schottische Nationalparlament (sehr, eigentlich zu grober Vergleich: Landtag). In Gemeinden in ganz Britannien die Gemeindeverwaltung („Council“) samt Bürgermeisterposten (London, Liverpool...).

Und in der nordenglischen Stadt Hartlepool fand eine Nachwahl („by-election“) für den dortigen Unterhaussitz statt, nachdem der bisherige Labour-Abgeordnete wegen Vorwürfen sexueller Belästigung zurücktreten musste (er bestreitet).

Kurz nachdem der neue Labour-Kandidat für diese By-Election ausgewählt war, war übrigens ein zehn Jahre alter Tweet von ihm aufgetaucht, in dem er seine Followers launig nach deren favourite Tory MILF fragte. Auch ein gelungener Einstieg.

Aber darüber redet heute gar niemand mehr, denn der Kandidat ist schon längst wieder Geschichte. Labour hat diesen Stammsitz, den die Partei seit 1964 gehalten hatte, nämlich auf katastrophalste Weise verloren. Den Tories gehören in Hartlepool jetzt 51,9 Prozent der Stimmen, Labour nur mehr 28,7.

Und diese hochsymbolisch niederschmetternde Niederlage ist natürlich wieder Projektionsfläche für ALLE, die’s besser wissen, egal ob sie sich Corbyn zurückwünschen oder behaupten, dass der unwählbare Schatten Corbyns (unter dem Labour immerhin zweimal den Sitz in Hartlepool gewann, aber whatever) eben immer noch unheilsvoll über Labour hinge.

-- Kurzmontage: Mann mittleren Alters beim Toast-Verzehr --

So, jetzt wieder zurück aus der Küche und nichts Neues gelernt.

Trotzdem muss alles, was ich mir in den letzten Tagen für heute zu schreiben vorgenommen hatte, erst einmal vernichtet werden. Hat überhaupt keinen Sinn, kannst du alles gleich wieder zerknüllen.

Die vergangenen Wochen war’s doch noch darum gegangen, wie schamlos die Korruption in diesem Land geworden ist. Ein Premierminister, der jammert, weil ihm die Gage seines Amts nicht einmal zur Hälfte seines teuren Lebens reicht, der sich Geld von Parteispendern borgt, um seine Dienstwohnung in der Downing Street mit Tapeten um 1000 Euro die Rolle zu dekorieren und das Kindermädchen für sein Baby zu bezahlen.

Sein rausgeworfener Ex-Berater Dominic Cummings, der aus Rache für nachträgliche Schuldzuweisungen aus Johnsons Büro droht, alle schmutzigen Geheimnisse aus seiner Zeit in der Downing Street zu veröffentlichen.

Und als Vorgeschmack darauf die Schlagzeile „Dann lasst sie die Leichen in ihren Tausenden auf den Straßen stapeln“ in großen Lettern auf der Titelseite der Tory-treuen Daily Mail. Denn das - „No more fucking lockdowns. Let the bodies pile high in their thousands!“ - habe Johnson Ende vergangenen Jahres durchs Büro gebrüllt, so beschwören Cummings und andere Ohrenzeug*innen, und ehrlich, wer kann sich das nicht lebhaft vorstellen?

Daily Mail Titelseite Let The Bodies Pile High In Their Thousands

Daily Mail

Immerhin, wenn die Daily Mail, Stimme des britischen Rechtspopulismus, so titelte, war da doch eindeutig was im Gange. Kräfte, die den Buffo loswerden wollten. Giftige Intrigen im Hofstaat.

Und Labour-Chef Keir Starmer ging als Signal an Frau und Mann von der Straße zum Fototermin in die Tapetenabteilung jenes gutbürgerlichen Kaufhauses, dessen Inneneinrichtung Johnson und seiner Verlobten kolportierterweise zu minder gewesen war.

Ja erstaunlicherweise schien sich sogar schon herumzusprechen, dass es nicht okay sein könnte, wenn der Gesundheitsminister und seine Familie sich alle Anteile an der Firma seiner Schwester teilen, die im Auftrag des walisischen Gesundheitssystems für eine Gage von umgerechnet 172.000 Euro Dokumente shredderte.

Eine handliche Zusammenfassung der aktuellen Skandale, in die übrigens auch Ex-Premier David Cameron tief verwickelt ist, ist hier nachzulesen.

Die unter all dem Lärm vielgestellte Frage war, ob Labours Botschaft vom „same old Tory sleaze“ (dieselben alten Schmiergeschäfte der Tories) auch zu den Wähler*innen durchdringt.

Aber dann brauchte es nur eine halbe Woche, bis die Vibes sich wieder gedreht hatten: „Wen kümmern die verdammten Tapeten?“ wollten hunderte Kolumnen wissen.
Und das Stimmengewitter aus den Voxpop-Fabriken gab noch ein paar drauf: „Der Cummings, so ein falscher Hund, rächt sich am Boris, die Schlange. Der Boris, der einen guten Job macht. Den sie nie in Ruhe lassen.“

Der Boris, der doch sogar dafür gesorgt hatte, dass in Liverpool wieder ein Gig stattfinden konnte! Als Experiment zwar nur, aber mit schöner Öffentlichkeitswirkung und genau zum besten Zeitpunkt.
„Ich bin gern Boris’ Versuchskaninchen,“ schwärmte die Konzertbesucherin im BBC-Bericht.

„Der Boris hat uns geimpft!,“ stimmte die Generation ihrer Eltern mit ein, „Der Boris! Er hat uns geimpft!“

Ich war ja übrigens immer dagegen, den Buffo „Boris“ zu nennen, weil das doch Teil seines Tricks ist. Aber vielleicht hab ich’s mir anders überlegt, zumindest für die Dauer dieser Kolumne, in der er nun ausnahmsweise Der Boris heißt. Ich will austesten, ob ich dieser ganzen Geschichte damit ihren unverdienten Anflug von Seriosität nehmen kann, und ich glaube, bisher läuft’s ganz gut.

Man kann der heutigen politischen Debatte mit ihrer sadistisch/masochistischen (je nachdem) Fixierung auf Labours Versagen nicht vorhalten, sich einzig auf das 92.000-Seelen-Städtchen Hartlepool zu kaprizieren, während Schottland und die Gemeindewahlen in London und dem Rest des Landes erst einmal so gut wie unerwähnt blieben. Das hat ganz nüchtern vor allem damit zu tun, dass dort so frustrierend langsam gezählt wird (es tröpfeln die Resultate rein, während ich hier tippe).

Trotzdem erinnert die Berichterstattung über Labour schon stark an jemand, der einem erst das Eis aus der Hand boxt und dann sagt: „Dein Stanitzel ist ja völlig leer und deine Schuhe ganz pickig.“

Es gilt natürlich die in der Post-Brexit-Debatte schmerzhaft bestätigte, goldene Regel, NIE den Wähler*innen die Schuld dafür zu geben, gegen ihre eigenen Interessen gestimmt zu haben. Denn das wäre „patronising“, es unterstellt ihnen, nicht zu wissen, was sie tun. Problem nur, dass „Ihr habt recht, wir haben es nicht anders verdient“ genauso wenig ehrlich, oder falls doch dann auch ziemlich erbärmlich klingt.

Und dass es so tut, als wäre der Zustand der britischen Medienlandschaft irgendwie normal.
Als hätten die Wählenden je den Anflug einer realistischen Chance gehabt, sich einen halbwegs akzeptablen Informationsstand zu verschaffen. Verständnis an dieser Stelle übrigens für die satte Absolute der Hartlepooler Nicht-Wähler*innen.

Ein Shout-Out auch an die französischen Fischer*innen der Normandie, die mit ihrer Blockade des Hafens von St. Helier an der Kanalinsel Jersey aus Protest gegen post-Brexit aberkannte Fischereirechte der britischen Regierung eine Ausrede gaben, ein paar Kriegsschiffchen auszuschicken und am Tag der Wahlen noch schnell den Comedy-Heuler „War with France“ zum Twitter-Trend-Thema zu machen.

Als Illustration des nationalistischen Fiebers, das so ein kleiner Kraftakt zwischendurch auszulösen vermag, hier ein Tweet mit den Schlagzeilen von heute (nur anklicken, wenn man sich gerade stark genug dafür fühlt).

Ist es da ein Wunder, wenn das Land sich hinter den Boris stellt?

Verzeihung, wenn ich hier noch einmal den Brexit erwähnen muss, aber wie sich anhand solcher Vorfälle immer stärker abzeichnet, wird alles, was der EU-Austritt an Bredouillen produziert, dem Boris vor dem Hintergrund oben erwähnter Hofberichterstattung auf allen Kanälen bloß nützen.

Wie sich etwa am Theater rund um die scheinbar sinnlos kontraproduktive Nicht-Anerkennung/Dann-doch-Anerkennung des EU-Botschafters in London zeigte, wird das mutwillige Erzeugen von Konflikten mit Europa auf absehbare Zukunft ein permanentes Feature der britischen Regierungspolitik bleiben. D.h. spezifisch der englischen.

Denn selbst wenn die schottischen, (einstweilen) progressiv gepolten Nationalist*innen bei den dortigen Wahlen, wie es derzeit aussieht, keine absolute Mehrheit erreicht haben, wird der zunehmend dringliche Konflikt um die Einheit des Königinnenreichs Labours Probleme bald wieder in den Schatten stellen.

Nicola Sturgeon

APA/AFP/Pool/Jeff J Mitchell

Übrigens durften in Schottland gestern zum ersten Mal auch alle Ausländer*innen mit Aufenthaltsrecht und Geflüchtete wählen. Allein der Gedanke, dass sowas im toxisch xenophoben England überhaupt wer vorschlagen würde, scheint dieser Tage vollkommen unvorstellbar.

So wie bei euch, wenn man’s bedenkt.

Und das ist, wenn ich doch noch meinen eigenen Senf zu Labours Lage abgeben darf, wieder einmal eine wichtige Lektion am Rande: Labour tritt schon lange nicht mehr gegen die konservative Partei von damals an. Sondern gegen eine unter gemeinsamem Parteinamen vereinte Koalition aus Konservativen des alten Stils und harten Rechtspopulist*innen im kontinentaleuropäischen und US-amerikanischen Sinn.

Die Brit*innen haben sich immer gern gerühmt, dass ihr First-Past-The-Post-Wahlrecht als Garant eines De-facto-Zweiparteiensystems das Eindringen des Extremismus in die demokratischen Institutionen verhindere. Tatsächlich hat es ihm den direkten Weg ins Zentrum der Macht geebnet. Ob der Boris da - etwa mit deprimierenderweise populären, radikalen Kürzungen von Entwicklungshilfe oder Kunstuni-Budgets - bloß mitspielt oder mit Leib (den er hat) und Seele (hat er die?) dabei ist, hat eigentlich keinen Belang.

PS: Ein erfrischender Mitschnitt davon, wie Nicola Sturgeon auf den Straßen von Glasgow eine Neo-Faschistin abserviert, die als Co-Anführerin von „Britain First“ aktiv für den Brexit warb, ist hier zu sehen.

PPS: Ein paar Gemeindewahlenergebnisse gibt’s ja schon, und wie ich während des Schreibens las, haben zum Teil die hier ziemlich linken Grünen einige Sitze, manche davon mit Zuwächsen jenseits der 40 Prozent gewonnen, teils auf Kosten Labours, teils auf Kosten der Konservativen.

Ohne konkrete Analysen gesehen zu haben, lässt sich schon behaupten, dass die Greens sich immer mehr als Magnet für von Jeremy Corbyn 2017 politisierte, seither desillusionierte Jungwähler*innen erweisen.

Darüber verlieren all die schlauen Leute auf meiner Timeline bisher bezeichnenderweise keine Worte – weder Labours Zentrist*innen, die Law & Order und noch mehr Union Jacks fordern, noch Labours „Linke“, die alles Übel immer bei den Remainers suchen, welche mit ihrem kosmopolitischen Getue die proletarischen Kernwählerschichten abgeturnt haben. Sollten sie aber, ziemlich dringend.

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