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Melisa Erkurt

Radio FM4 | Gersin Livia Paya

Das Gefühl, nicht dazuzugehören, ist geblieben

Die Journalistin, Autorin, Lehrerin und Medienmacherin Melisa Erkurt ist zu Gast im FM4 Doppelzimmer und rechnet in einem Gespräch über Bildungschancen und Alltagsrassismus mit dem österreichischen Bildungssystem ab.

Von Elisabeth Scharang

FM4 Doppelzimmer am 13. Mai, von 13 bis 15 Uhr, im FM4 Player und als FM4 Podcast

Melisa Erkurt bringt es in einem Satz auf den Punkt: Solange unser Schulsystem den Bildungserfolg der Kinder auf der Mitarbeit der Eltern aufbaut, sind die Bildungschancen ungleich verteilt. Natürlich ist es wünschenswert, wenn Eltern die Zeit und das Interesse mitbringen, um ihre Kinder beim Lernen und in ihrer Entwicklung bestmöglich zu unterstützen. Aber man kann Kinder doch nicht dafür bestraften, wenn Eltern das nicht tun können oder wollen.

Deshalb fordert Melisa Erkurt eine verpflichtende Ganztagsschule für alle Kinder, am bestem mit einer Quote für Kinder aus unterschiedlichen sozialen Schichten, damit „ich nenne sie liebevoll Bobo-Kinder“ und Kinder mit Migrationsbackground besser verteilt sind. Und obendrein ein verpflichtendes zweites Kindergartenjahr, um die Ausgangsposition für Kinder, bevor sie in die Schule kommen, bestmöglich auszugleichen. Klingt doch alles nachvollziehbar, oder? Melisa Erkurt ist aus meiner Sicht die zurzeit interessanteste und wichtigste Stimme in dem österreichischen Bildungschor, den ich, seit ich selbst in die Schule gegangen bin, und das war in den 80ern, höre.

Melisa Erkurt und Elisabeth Scharang

Radio FM4 | Gersin Livia Paya

Quote für die Bobo-Kinder

Warum sich in der politischen und öffentlichen Diskussion in Österreich keine großen Schritte abzeichnen, hat ideologische Gründe. Das ist keine These, sondern ein Fakt. Die konservative Vorstellung von Familie, die impliziert, dass ein Elternteil halbtags zu Hause ist, um die Kinder zu beaufsichtigen und ihnen bei den Hauaufgaben zu helfen – weil die Einkommensverhältnisse es nicht anders zulassen, sind das dann tendenziell die Frauen –, blockiert die Diskussion. Schwierig dabei: Niemand spricht das an.

Das Problem sind nicht die Kinder, sondern die Erwachsenen

Über all das schreibt Melisa Erkurt in ihrem Buch „Generation Haram. Warum Schule lernen muss, ALLEN eine Stimme zu geben“. Es ist nicht übertrieben, dass die Autorin und Journalistin seither bei den vielen Diskussionen, zu denen sie eingeladen ist, als Bildungsexpertin bezeichnet wird. Nach der Matura studierte Melisa Deutsch, Philosophie und Psychologie auf Lehramt, um später an einer Schule unterrichten zu können. Gleichzeitig begann sie, beim Magazin biber zu schreiben und veröffentlichte 2016 die vieldiskutierte Reportage „Generation Haram“ über die Verbotskultur, mit der muslimische Burschen vornehmlich muslimische Mädchen unterdrücken. Sie leitet Schulprojekte an Schulen in Wien mit hohem Migrationsanteil und 2019 geht sie schließlich selbst als Lehrerin an eine AHS. „Ich dachte anfangs, dass viele der Schüler*innen in meiner Klasse wohl noch nicht so lange in Österreich sind, weil das Niveau ihrer Deutschkenntnisse ziemlich schlecht war. Aber es hat sich bald herausgestellt, dass viele von ihnen in Österreich geboren sind“, erzählt Melisa Erkurt. „In den sogenannten Brennpunktschulen mit sehr hohem Anteil von Kindern mit Migrationshintergrund muss das Beurteilungsniveau in der Volksschule oft gesenkt werden, weil die Lehrer*innen sonst überhaupt keine Einser vergeben können. Bereits dort müssen Kinder von einer zur nächsten Klasse mitgeschleppt werden, weil die Eltern nicht wollen, dass ihre Kinder eine Klasse wiederholen, und die Förderklassen und das Personal fehlen, um alle entsprechend zu unterrichten und auf die weiterführenden Schulen vorzubereiten. Das kann meistens nicht mehr aufgeholt werden.“

Melisa Erkurt und Elisabeth Scharang

Radio FM4 | Gersin Livia Paya

Melisa ist 1992 mit ihrer Mutter aus Sarajevo vor dem Krieg geflohen. Ihr Vater kam nach dem Krieg nach. „Ich habe in der Schule viel Alltagsrassismus erlebt, aber ich wusste nicht, dass es Rassismus ist, ich hatte kein Wort dafür. Ich wäre auch nie auf die Idee gekommen, mit meinen Eltern darüber zu reden, die hatten keine Zeit, weil sie sehr, sehr viel arbeiten mußten.“ Was Melisa schnell verstanden hatte: Bosnisch ist keine Zweitsprache wie Französisch oder Italienisch, auf die man stolz sein kann. Es ist besser, sie zu verheimlichen. Deshalb spricht Melisa Erkurt heute davon, dass sie in Bosnisch „halbsprachig“ ist. „Ich spreche Bosnisch auf dem Niveau eines kleinen Kindes. Das ist sehr schade, vor allem, weil ich das Gefühl habe, dass ich die bosnische Identität meiner Eltern dadurch nicht wirklich begreife. Das schafft eine Distanz.“

Ein Grund, warum Melisa in der Schule gute Noten hatte und gerne in die Schule ging, erzählt sie, war, dass die Volksschullehrerin sie nie nach ihrer Herkunft oder ihrem Glauben gefragt hat und stattdessen fragte, welche Bücher sie uns vorlesen sollte. „Sie schrieb motivierende Kommentare unter meine Hausübungen und lobte viel und ausgiebig. Dank ihr war die Schule tatsächlich mein safe space."

Melisa Erkurt und Elisabeth Scharang

Radio FM4 | Gersin Livia Paya

Im FM4 Doppelzimmer am 13. Mai kommentiert Melisa Erkurt die Kopftuchdebatte und wie das Einsetzen der Menstruation die innerfamiliäre Situation junger Muslimas verändert. Sie erzählt über ihr neues Medienprojekt Die Chefredaktion und den Podcast Ö1 Sprechstunde, den sie regelmäßig macht. Ihre Songliste ist hiphoplastig und ihre Bestrebungen, in die Bildungsdebatte als Politikerin einzusteigen (leider) gleich null.

Das ungekürzte Gespräch mit Melisa Erkurt könnt ihr als FM4 Podcast hören.

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