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Links: Eine Frau mit Kamera an einem Tatort, hinter ihr ein Polizist. Rechts: Eine Frau schaut aus einem Fenster

HBO/SKY | Netflix

Zwei Krimis mit Antiheldinnen

Amy Adams und Kate Winslet spielen zwei unterschiedliche Antiheldinnen in den neuen Streaming-Krimis „The Woman in the Window“ und „Mare of Easttown“.

Von Christian Fuchs

Strandlektüre nennt man solche Bücher. Und das ist gar nicht abwertend gemeint. „The Woman in the Window“ ist ein klassischer Pageturner, ein Psychothriller voller genregerechter Twists und Enthüllungen, ideal für Urlaube oder lange Zugfahrten. Der Autor A.J. Finn schafft es damit 2018 auf internationale Bestsellerlisten. Noch vor dem Erscheinen aber sichern sich Hollywoodproduzenten die Rechte.

Wenn aus einem soliden Strandschmöker vom Literatur-Fließband ein außergewöhnlicher Spielfilm werden soll, braucht es einen visionären Regisseur. Joe Wright hat ein paar ziemlich tolle Filme gedreht, man denke an „Atonement“ oder „Hanna“, das Potenzial wäre da. Der Plot wiederum schreit fast nach einer visuellen Umsetzung.

Wir lernen Anna Fox kennen, eine ehemals renommierte Kinderpsychologin mit einem Riesenproblem: Sie leidet unter Agoraphobie. Seit einem Jahr schafft es die traumatisierte Frau nicht ihre New Yorker Wohnung zu verlassen. Eingesperrt mit täglichen Essenslieferungen, verschiedensten Psychopharmaka und zu vielen Flaschen Rotwein entwickelt sich Anna zur obsessiven Voyeurin. Was das Privatleben ihrer Nachbarn betrifft, entgeht ihr nichts.

Eine Frau schaut aus einem Fenster

Netflix

Hitchcock-Hommage ohne Sogwirkung

Wer spätestens an dieser Stelle an Alfred Hitchcocks ikonisch verehrten Suspense-Thriller „Rear Window“ denkt, liegt natürlich richtig. „The Woman in the Window“ verbeugt sich als Buch und Film deutlich vor dem großen Vorbild, Anna Fox sieht sich selbst gar als weiblicher James Stewart. Als sie über das Fenster zum Hof einen Mord an einer Nachbarin beobachtet, die ihr erst am Abend davor einen unerwarteten Besuch abstattete, will auch ihr keiner glauben.

Mit Gary Oldman, Juliane Moore, Anthonie Mackie und vor allem Amy Adams in der Hauptrolle präsentiert sich der Film vielversprechend und höchst prominent besetzt. Tatsächlich war ja ein breiter Kinostart für Joe Wrights Romanadaption im Vorjahr angedacht, dann kam die Pandemie dazwischen.

Dass „The Woman in the Window“ jetzt auf Netflix gelandet ist, also im Reich der Laptops und Tablets, passt aber perfekt. Irgendwie entwickelt die Hitchcock-Hommage keine richtige cinematische Sogwirkung, auch wenn sich die bewegte Kamera manchmal bemüht. Alle spielen wie auf Autopilot, die stets faszinierende Amy Adams nervt hier leider im ständigen Leidensmodus. Wenn auch fürs Kino geplant, wirkt dieses schicke Krimi-Kammerspiel im Fernsehen bestens aufgehoben.

Authentisch und nachvollziehbar

Anna Fox ist als detektivische Antiheldin am Rande des Nervenzusammenbruchs jedenfalls Teil eines filmischen Trends. Endlich dürfen sich auch immer mehr weibliche Figuren moralische Ambivalenzen und soziale Knackser erlauben, Befindlichkeiten, die lange männlichen Akteuren vorbehalten waren.

Auch Serien mit neurotischen, grimmigen Cops und vom Leben geprügelten Ermittlern gibt es bekanntlich wie Sand am Meer. Und dann taucht da plötzlich Mare Sheehan auf. Eine Provinzpolizistin, Mitte vierzig zirka, die das Gewicht der Welt auf ihren Schultern stemmt. Trotz ständiger privater Schicksalsschläge taucht sie abgebrüht und lakonisch durch den Alltag und erledigt ihren Job obsessiv.

Eine Frau blickt ernst

HBO/SKY

Dass sich „Mare of Easttown“, kreiert vom Autor Brad Ingelsby, so authentisch und nachvollziehbar anfühlt, liegt an der fantastischen Kate Winslet. Abseits aller Krimi-Stereotypen portraitiert sie auf subtile Weise eine Frau aus Fleisch und Blut. Mürrisch schleppt sich Mare durch die sieben Episoden der Miniserie, während rundherum alles in Scherben liegt.

Ensembledrama aus der Arbeiterklasse

Im Mittelpunkt steht ein grausamer Mord, der die amerikanische Kleinstadt Easttown erschüttert, am Rand von Pennsylvania. Eine blutjunge Mutter wird im Wald erschlagen aufgefunden, Erinnerungen an verschwundene Mädchen in der Gegend werden wach.

Hier beginnt neben der charismatischen Titelfigur die zweite Besonderheit dieser Serie. Easttown, das ist bei aller Trostlosigkeit kein Vorort zur Hölle, sondern ein Städtchen, an dem ganz normale Menschen leben, lieben, streiten und betrügen. Während andere Serien wie „Big Little Lies“ (ebenfalls von HBO produziert) auf den Glamour exklusiver Milieus setzen, wirft „Mare of Easttown“ einen Blick auf die Arbeiterklasse und die porösen Fassaden der Mittelschicht.

Eine Frau mit Gips am linken Arm sitzt auf einem Sofa

HBO/Sky

Der fesselnde Realismus hat, zugegeben, seine Grenzen. Je tiefer Mare in den Fall eintaucht, desto mehr Haken schlägt das Drehbuch. Fast jede Person kämpft mit großer Tragik, die Serie verknüpft Polizeiarbeit und Privates zu einem Ensembledrama, in dem es fast so unübersichtlich wie in „Game of Thrones“ zugeht.

Die zunehmende Konstruiertheit der Handlung und auch manche Krimiklischees lassen sich aber leicht wegstecken. Craig Zobel, der bei allen Folgen Regie führte, liefert feinfühliges Schauspielerkino für den kleinen Bildschirm. Mit Jean Smart, Guy Pearce, Angourie Rice oder Evan Peters hat die überragende Kate Winslet perfekte Partner*innen. Dass „Mare of Easttown“ auch noch verdammt spannend ist, schadet nicht.

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Von „Mare of Easttown“ wird auch im FM4 Filmpodast am Montag die Rede sein.

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