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Mit Dmitrij Kapitelman durch die ukrainische Bürokratie

Der Autor Dmitrij Kapitelman wurde 1986 in Kiew geboren und ist im Alter von sechs Jahren mit seiner Familie nach Deutschland gekommen. Nach 25 Jahren will er endlich die deutsche Staatsbürgerschaft. Dafür muss er aber noch einmal zurück in das Land seiner Kindheit. Eine Odyssee beginnt – mit unerwarteter Wendung.

Von Diana Köhler

Großgeworden als Sohn ukrainisch-jüdischer Einwanderer während der sogenannten Baseballschlägerjahre hat sich Dmitrij Kapitelman eigentlich geschworen, nie Deutscher werden zu wollen. Als Baseballschlägerjahre wird die Wendezeit im Osten Deutschlands bezeichnet. Neonazistische Schlägertrupps haben in dieser Zeit migrantisch gelesene und linke Menschen terrorisiert und teilweise auch getötet, während die Polizei tatenlos zugeschaut hat.

„Ich behauptete, es sei wegen der Shoa und der blutrünstigen Neonazis, die uns durch die Leipziger Plattenbausiedlung gejagt haben. Wegen der Zigaretten, die sie lachend an uns ausdrückten, den Kampfhunden, die sie auf uns hetzten, den Pistolen, die sie uns beim Eis essen am Kulkwitzer See an den Kopf hielten. Und den deutschen Polizisten, die nie etwas gegen die deutschen Nazis taten.“

Umschlag

Anzinger und Rasp, München

Doch nach 25 Jahren muss Dmitrij sich eingestehen: So ein deutscher Pass ist einfach verdammt praktisch. Keine Visaanträge und keine komischen Blicke beim Ziehen des Personalausweises mehr! Außerdem befolgt er das Grundgesetz genauer als der Security-Nazi am Eingang der Ausländerbehörde, findet er.

Zurück in die Vergangenheit

Aber wo deutsch draufsteht ist auch Bürokratie drinnen. Und so muss sich Dmitrij tatsächlich in das Land seiner Geburt aufmachen, um das letzte Dokument zu bekommen, das ihn von seiner deutschen Staatsbürgerschaft trennt: Die Apostille, den Beweis seiner Geburt. Dmitrij weiß, dass er dafür mit der bösen ukrainischen Bestechungsbürokratie flirten muss. Aber ohne die Formalie wird es nichts mit der Staatsbürgerschaft, sagt ihm seine Sachbearbeiterin.

Mit der Reise nach Kiew beginnt eine Reise in die Vergangenheit seiner Familie, mit der sich Dmitrij zerstritten hat. Stück für Stück kommt heraus, dass es wohl doch nicht nur der unendliche Papierkram war, der Dmitrij davon abgehalten hat, Deutscher zu werden. Die komplizierte Beziehung zu seinen Eltern, zu Deutschland und der Ukraine, die ständige Suche nach Identität ist es, die ihn schließlich dazu bringt, den Papierkram hinzunehmen.

Porträt Kapitelman

Christian Werner / Hanser Berlin

In Kiew wandelt Dmitrij auf alten Pfaden. Besucht die ehemalige Wohnung im Plattenbau und den Freund, mit dem er damals am Spielplatz gespielt hat, um den immer noch die großen Birken stehen. Und ausgerechnet am Beispiel einer Torte macht Dmitrij Kapitelman die Essenz des Buches greifbar:

„Manchmal brachten uns ukrainische Bekannte eine Kiewer Torte nach Leipzig mit. Und ich sollte sie kosten. Sagte ich, dass sie mir nicht schmeckte, kriegte ich deutsche Geschmacklosigkeit attestiert. War ich voll des Lobes für die Kiewer Torte, stellte Mutter klar, dass die Torten heutzutage nur noch ein Schatten der sowjetischen Traumtorten seien und dass ich keine Ahnung habe. Beging ich einen russischen Sprachfehler bei meiner Kuchenkritik, lachten Vera und Leonid mich aus. So ungefähr bekam ich meinen Kiew-Komplex.“

Obwohl man im ersten Moment meinen möchte, dass es sich hier um eine autobiografische Erzählung handelt stimmt das nur teilweise. Autor und Protagonist des Buches tragen den gleichen Namen, doch ist die Geschichte nur inspiriert von wahren Erlebnissen Dmitrij Kapitelmans. Das schafft eine Stimmung, die den Charme des Buches ausmacht. Hinzu kommt der witzige Schreibstil, der sich mit tragischen und oft auch traurigen Szenen vermischt. So kommt es, dass man im gleichen Moment über eine absurde SItuation schmunzeln und zugleich auch weinen möchte. (Zumindest wenn man nah am Wasser gebaut ist)

Erst der Anfang

Seine Apostille bekommt Dmitrij, so viel sei verraten. Doch da sind wir erst in der Mitte des Buches und es stellt sich heraus, dass die Formalie, die er erledigen musste, nur der Anfang war. Denn plötzlich taucht überraschend Dmitrijs Vater in Kiew auf. Und damit beginnt nicht nur eine Odyssee durch das ukrainische Gesundheitssystem, sondern auch die Wiederannäherung einer Familie.

„Eine Formalie in Kiew“ zeigt, wie nah das „nicht-dazugehören-wollen“ und das „dazugehören-wollen“ beieinander liegen. Wie unmöglich-möglich Abgrenzung ist. Und warum man erst in die bekannt-unbekannten Ferne fahren muss, um näher zueinander zu finden.

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