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Heike Geißler beim Bachmannpreis 2021

ORF/LST Kärnten

So war der erste Tag beim Bachmannpreis 2021

14 Autor*innen lesen von zu Hause ihre neuen Texte. Höchstens 25 Minuten hat jede*r Zeit für die Lesung. Danach diskutiert die Jury live in Klagenfurt. Julia Weber hat am Donnerstagvormittag als erste Lesende die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur eröffnet.

Von Maria Motter

45. Tage der deutschsprachigen Literatur,
16. bis 20. Juni 2021:
Live auf 3sat und bachmannpreis.ORF.at, Donnerstag und Freitag von 10 bis 15.30 Uhr und am Samstag von 10 bis 14.30 Uhr. Die Preisvergabe ist am Sonntag von 11 bis 12 Uhr.

Engel oder Prostituierte, so genau wisse man das nicht oder zumindest ist sich die Jury nicht einig über die erste literarische Figur, die da in Julia Webers Beitrag um den Bachmannpreis auftritt.

Die Uneinigkeit sei gleich ein gutes Zeichen, freut sich die Jury-Vorsitzende Insa Wilke. Im Landesstudio in Kärnten hat sich die Jury versammelt und diskutiert 2021 wieder direkt miteinander über die Texte. Und gleich zu Beginn über eine irritierende Sexszene. Es gibt einen Preis für „Best Sex in Fiction“, weiß Juror Klaus Kastberger.

Zuhause sind die Autor*innen. Wir sehen sie zwischendurch, wie sie den Aufnahmen ihrer eigenen Lesungen zusehen. Die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur sind noch ein „Ingeborg-Bachmannpreis-Spezial“. Für die Autor*innen fällt all die Aufregung und Euphorie weg, die sich im und rund um den Austragungsort sonst einstellt. Es ist diesmal doppeltes Fernsehen.

Die Jury ist vor Ort in Klagenfurt bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur 2021. Die Lesungen der teilnehmenden Autor*innen sind aufgezeichnet.

ORF

Julia Weber stellt “Ruth“ in den Studioraum

Julia Webers Debütroman trägt den Titel „Immer ist alles schön“ (Limmat Verlag, 2017) und für die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur hat sie den Text „Ruth“ geschrieben.

Die Technik ist ein Hund. Der Ton der aufgezeichneten Lesung von Julia Weber klingt bei Sendung wie zerhäckselt. Kurze Sendeunterbrechung.

Julia Weber ist tapfer, aber die Enttäuschung über diesen Start ist ihr anzusehen. Die Autor*innen haben ihre Lesungen zwar aufgezeichnet, sind aber in der Sendung live zusehend immer wieder auch im Bild. Die Statuten des Bewerbs sehen vor, dass sich die teilnehmenden Autor*innen bei Jurydiskussionen auch zu Wort melden können. Das macht allerdings selten jemand, es kam in der Vergangenheit nie sonderlich gut an.

Julia Weber bei ihrer Lesung bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur.

Andrea Meier

Julia Weber hat das Wettlesen um den Ingeborg-Bachmann-Preis eröffnet.

Heike Geißler und selbsternannte proletarische Prinzessinnen

Heike Geißler liest als Zweite um den Bachmannpreis 2021 mit ihrem Text “Die Woche“. An einer Stelle in Geißlers Beitrag für den Bachmannbewerb heißt es: „Und in ein paar Tagen diese hypothetische Frage: Stell dir vor, du könntest für den Weltfrieden sorgen, wärest aber als Preis dafür 20 Kilogramm schwerer. Würdest du dich auf diesen Handel einlassen?“

Autorin Heike Geißler sitzt an einem Tisch.

ORF/LST Kärnten

Heike Geißler

Mara Delius ist neu in der Bachmannpreis-Jury. Die Literaturwissenschaftlerin schreibt für die Zeitung „Welt“ und spricht doppelt so schnell wie ihre Jurykolleg*innen. Für sie ist der Text nur schwer zu ertragen. „Auf den ersten Blick haben wir hier eine Sozialkritik, gewissermaßen getarnt als avantgardistisches Manifest nach den Manifesten für eine Generation um die vierzig, die hier versucht, ihre First World Problems pseudo-kapitalismuskritisch zu behandeln. Also Entmietung, Körperbilder, nahe Erwartung eines Systemwechsels inklusive einer gewissen latenten Beleidigtheit, dass dieser nicht eintritt“. Leser*innen würden an jeder zweiten oder dritten Stelle „mit einer Art Lastenfahrradladung von Befindlichkeiten dieser selbsternannten proletarischen Prinzessin überschüttet“.

Auf den zweiten Blick allerdings findet Mara Delius einen Charme des Textes: Heike Geißlers „Die Woche“ zeige eine Art Empfindungsparadoxon der Gegenwart auf, wie es sich mit der weiblichen Wahrnehmung in dieser Welt abseits der Utopien verhält.

Philipp Tingler hat ein strukturelles Problem mit der Erzählstimme, deren Verlorenheit er als Mangel an auktorialer Souveränität sieht. Der Text sei nicht besonders gelungen. Michael Wiederstein ist der Text grundsätzlich zu lang, beim Vorlesen habe er die satirische Qualität entdeckt. Der Text kritisiere den Diskurs über die wohlstandsverwahrlosten Vierzigjährigen. Dieses „Dunkel war’s, der Mond schien helle“ immer wieder zu machen, wäre dann doch zu viel. Vea Kaiser hat über einzelne Bilder aufgelacht, aber die vielen Klischees hätten sie traurig gemacht. Klaus Kastberger gefällt, dass der Text um eine Form ringt, und Insa Wilke stimmt zu. Das ist eine Rede gegen die Tödlichkeit, sagt Insa Wilke und erklärt den Aufbau des Textes von Heike Geißler. „Guckt euch doch bitte mal den Hasen an!“

Necati Öziri und ein Brief an einen Vater

Necati Öziri liest seinen Text „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“, einen inneren Monolog eines lebensbedrohlich Erkrankten, der sich an seinen Vater richtet, der die Familie zurückließ und in die Türkei zurückgekehrt ist.

Neo-Jurorin Vea Kaiser war in den Text „Morgen wache ich auf“ hineingezogen und ist „irrsinnig begeistert“, berührt und hat beim ersten Lesen „ein Tränchen verdrückt“. Michael Wiederstein findet die Bilder toll: Dass man aus dem Gefängnis kommt und das Leben danach mit neuen Socken beginnt. Klaus Kastberger trägt vormittags ein T-Shirt mit dem Aufdruck „Larifari“ und erinnert somit an die kürzlich verstorbene, große österreichische Dichterin Friederike Mayröcker. Und er führt gleich eine andere Größe ins Treffen: Kastberger verweist auf Kafkas „Brief an den Vater“. Öziri würde nur ab und an zu sehr auf die Tube drücken mit der Wahl dieser Sprechsituation vom Krankenbett aus.

Eine große Fülle an äußerer Dramatik, stellt Philipp Tingler fest, allerdings stehe dieses Ich unbeweglich da, und das ist jetzt beliebt in der Gegenwartsliteratur. Die Kraft der Imagination, die Literatur hat, werde gut durchgespielt, sagt Jurorin Brigitte Schwens-Harrant. Sehr angetan ist auch Insa Wilke, die noch hervorhebt, dass ein Subtext sei, wie man eigentlich noch politisch handeln könne, der angesprochene Vater im Text ein Gesuchter ist. „Ich würde wissen wollen, ob ich der Sohn eines überzeugten Attentäters war, eines Revolutionärs, Freiheitskämpfers, Putschisten, Terroristen“, heißt es in Öziris Text an einer Stelle, ehe sich die Perspektive dreht.

Necati Öziri liest um den Ingeborg-Bachmann-Preis.

ORF/Landesstudio Kärnten

Necati Öziri ist Autor und Dramaturg des Theatertreffens und Leiter des Internationalen Forums, er ist zudem Hausautor des Nationaltheater Mannheim.

Eine Leiche in Magda Woitzucks „Die andere Frau“ und einige Fragezeichen dazu

Magda Woitzuck hat einen sehr familiär abgesteckten Rahmen für ihren Text „Die andere Frau“ gewählt.

Eine Nachbarin ist tot, eine andere Frau ist unzufrieden, auch in ihrer Ehe. Philipp Tingler lobt Woitzucks Beitrag als „grandios": Hinter der alltäglich sichtbaren Welt der Erscheinung steckt noch etwas Anderes, das durch die Erscheinung hindurch wirkt“ und das zeige der Text. Vea Kaiser spricht von einer David-Lynch-haften Atmosphäre. Eher Miss Marple, als Lynch ortet Juror Michael Wiederstehn und rätselt über mögliche Todesursachen der Nachbarin.

Tagträumen mit Katharina J. Ferner

„Mir träumt: siebzehn Hektar Meer. Wir sind in den Zoo eingebrochen, um in der Nacht zwischen Quallen zu schwimmen. Unser ursprünglicher Plan, ans Meer zu fahren, ist wegen der Reisebeschränkungen vertagt“, führt Katharina J. Ferner in eine Fantasie, in der die Welt in Wien unterzugehen droht, aber die bedrohten Arten sind noch zum Greifen nah dank Haus des Meeres, „FFP2“ steht in „1709,54 Kilometer“ für die Feuerwehrfrauen Pinzgau und nach einem Almausflug geht es bergab, wirkt recht vertraut, inklusive Erinnerung an eine Klassenfahrt.

Die Traumsprache verliert sich nach und nach im Text, stellt Insa Wilke fest. Mara Delius, Vea Kaiser und Philipp Tingler können damit nichts anfangen. „Was soll das? Oder: Muss man schreiben, bloß weil man die technischen Möglichkeiten hat?“, aburteilt Philipp Tingler.

Katharina J. Ferner trägt einen Pony und greift sich mit einer Hand um den Kopf.

ORF/Landesstudio Kärnten/Mark Daniel Prohaska

Die Salzburgerin Katharina J. Ferner

Schamhaare, Brustwarzen und Socken kommen mehrfach vor in Texten des ersten Lesetages. Die Geschichten sind Nahaufnahmen, groß ausgeholt wird thematisch noch nicht. Morgen, Freitagvormittag, geht das Lesen um den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis weiter um Punkt 10 Uhr, live auf 3sat und bachmannpreis.orf.at.

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