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Die Jury sitzt im Studio bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur.

ORF Landesstudio Kärnten, Johannes Puch

Favorit*innen mit Familiengeschichten

Alle 14 Autor*innen sahen ihren Lesungen zu, am dritten Tag der 45. Tage der deutschprachigen Literatur gesellen sich zu Necati Öziri weitere Favorit*innen.

Von Maria Motter

45. Tage der deutschsprachigen Literatur, 16. bis 20. Juni 2021: Live und in der Mediathek auf 3sat und bachmannpreis.ORF.at.

Das riesige Portrait ist auf der Fassade des Lincoln Center for the Performing Arts zu sehen: „Nackt siehst du noch besser aus"!“, kommentiert eine Autorin, die den abgebildeten Tänzer in New York besucht. Er ist ihr Cousin und hat als zwölfjähriges Kind erlebt, was als „Sperrgebiet, zum Tschernobyl der Familiengeschichte“ unbehandelt zwischen den Verwandten steht. Die einstigen Kinder begegnen einander mit Neugier auf ihre Arbeiten und erinnern Eltern. Nava Ebrahimi verdoppelt die Fiktion in ihrem Beitrag für die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur.

Denn ihre Ich-Erzählerin im Text „Der Cousin“ ist auch Autorin. Und sie erzählt kurz von ihrem Roman, weil der Cousin fragt, ob er darin denn vorkäme.

Die Kunst hat Ausdrucksmöglichkeiten, die es sonst in keinem anderen Raum gibt, sagt der Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger, der Nava Ebrahimi zu den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur eingeladen hat.

Nava Ebrahimi bei ihrer Lesung für die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur. Sie sitzt an einem Schreibtisch, auf dem Boden liegt Lego.

Zita Bereuter

Nava Ebrahimi nimmt bei den 45. Tagen der deutschsprachigen Literatur teil. Und sie ist Jurorin bei FM4 Wortlaut.

Die Autor*innen sind bei der Sendung der Lesung und der anschließenden Videoanalyse anwesend - via Liveschalte. Denn in Klagenfurt vor Ort im ORF Landesstudio Kärnten sitzt beim „Bachmannpreis spezial“ nur die Jury.

Die neue Jurorin Mara Delius schätzt Nava Ebrahimis Wettbewerbsbeitrag. Philipp Tingler streicht hervor, dass innere Befindlichkeiten außen vor gelassen werden, was er schade findet. Auch neu in der Jury ist Vea Kaiser, sie ist von der Konstruktion beeindruckt. Der Cousin tanze den Text, sagt Insa Wilke.

Jene Texte fallen auf, die thematisch zumindest ein Stück weit die Enge oft allzu bekannter familiärer Beziehungsproblematiken verlassen und ausholen, wie Nava Ebrahimis „Der Cousin“.

Nava Ebrahimi ist in Teheran auf die Welt gekommen, sie hat in Köln Journalismus und Volkswirtschaftslehre studiert und als Redakteurin u.a. bei der Financial Times Deutschland gearbeitet. Jetzt lebt sie als Autorin in Graz, ihr Debütroman heißt „16 Wörter“, auch ihr zweiter Roman „Das Paradies meines Nachbarn“ (btb, 2020) wird gefeiert.

Von Dana Vowinckel will man den Roman lesen

Einmal im blauweiß gestreiften Badeanzug aus der U-Bahnstation Kottbusser Tor spazieren, hat Dana Vowinckel sich gedacht und das für ihr Videoporträt für den Bachmannbewerb auch gemacht.

Von der jüdischen Diaspora erzählt Dana Vowinckel in Familienbildern der Gegenwart in ihrem Text „Gewässer im Ziplock“. Berlin, Chicago und Jerusalem sind die Koordinaten. Ein Mädchen verbringt die Ferien bei den Großeltern in den USA, der Vater betet in der Synagoge und die Mutter ist die große Abwesende.

Die kindliche Perspektive ist ausgezeichnet und dieses „Nie wieder“ ist beiläufig, aber unübersehbar gesetzt. „Nie wieder, beschloss sie, würde sie den Pullover waschen, den sie gerade trug, weil die Klimaanlage im Auto so kalt war, dass ihr die Zähne klapperten.“

Diese Generation lässt Welten nebeneinander existieren

„Lässt euch nicht einreden, ihr müsst besonders getragen lesen“, empfiehlt Juror und Literaturwissenschaftler Klaus Kastberger Autor*innen und lobt die Lesung von Dana Vowinckel. Es sei schon gut, wenn der Text das Tempo habe, das zu seinem Schreiben gehöre. Kastberger verweist auch auf den „emerging market“ in der Unterhaltungsbranche, orthodoxe Welten zu zeigen. Das hänge mit dem Wunsch zusammen, andere Lebensformen sehen zu können. Ob sich der Text nur an eine Mode anhänge oder etwas Größeres vermöge, ist für Kastberger noch offen.

Es ist keine Mode, kontert Juryvorsitzende Insa Wilke: „Es gibt eine neue Generation, die Existenz von parallelen Welten, von Kontinuitäten, Tradition und gleichzeitig Überschreibungen und Neuschreibungen erzählt“. Das sei eine neue Generation, zu der Wilke auch den Autor und Theatermacher Necati Öziri zählt, die Welten nebeneinander stellt und diese auch nebeneinander gelten und existieren lässt. Das ist eine ganz andere Vorstellung von gesellschaftlicher Realität und ein neues generationales Selbstverständnis und -bewusstsein.

Gläubig ist der Vater im Text, doch von strenger orthodoxer Lebensweise ist nichts zu lesen. Die Agentin der Autorin meldet sich umgehend via Twitter zu Wort. Dana Vowinckel wurde von Jurorin Mara Delius zum Wettlesen um den mit 25.000 Euro dotierten Ingeborg-Bachmann-Preis eingeladen.

Dana Vowinckel sitzt an einem Schreibtisch und vor ihr stehen zwei Kameras.

ORF Landesstudio Kärnten

Dana Vowinckel bei ihrer Lesung für die 45. Tage der deutschsprachigen Literatur.

Die Kandidat*innen und ihre Texte

Julia Weber, eingeladen von Juror Michael Wiederstein, stellt „Ruth“ vor: eine Begegnung zwischen zwei Frauen, inklusive Sexszene mit sich verdunkelnden Brustwarzen. Die Jury rätselt, ob die Hauptfigur Engel, Prostituierte oder keines davon ist.

Heike Geißler ist eingeladen von der Juryvorsitzenden Insa Wilke und hat ein unterhaltsames Videoporträt. Ihr Text „Die Woche“ erzählt von der Balance zwischen privatem Fortkommen in einer Welt globaler Krisen.

Necati Öziri ist der erste und einzige klare Favorit am ersten Lesetag. Der Dramaturg und Autor ist ebenfalls auf Einladung von Insa Wilke dabei und begeistert die Jury mit seinem Text „Morgen wache ich auf und dann beginnt das Leben“. Todkrank schreibt der Sohn eines türkischen Einwanderers in Deutschland an den Vater, der die Familie noch vor der Geburt des Sohnes verlassen hatte, um in sein Heimatland zurückzukehren. Die politische Dimension blitzt nur kurz auf, als sich der Sohn fragt, ob der Vater Freiheitskämpfer oder Terrorist ist.

Die Österreicherin Magda Woitzuck wurde von der neuen Jurorin und Autorin Vea Kaiser zum Bachmannbewerb eingeladen. Woitzuck stellt den Text „Die andere Frau“ vor, in dem eine Frau in ihrer Ehe unglücklich ist und eine Nachbarin tot aufgefunden wird.

Katharina J. Ferner ist eingeladen von der Jurorin und Feuilletonleiterin der „Furche“, Brigitte Schwens-Harrant. In Ferners Text „1709,54 Kilometer“ schwappen Fische und anderes Getier aus dem Haus des Meeres in den Tagträumereien einer jungen Frau, die in Wien ihrem Alltag nachgeht, kurz auf eine Alm fährt, eine Wohnung besichtigt. Gegen Ende wird alles recht beliebig.

Leander Steinkopf liest auf Einladung von Vea Kaiser seinen Text „Ein Fest am See“. Darin sieht sich ein Protagonist auf einer Hochzeit leid, dass nicht er der Bräutigam ist. Die Jury bezeichnet den Text als Satire. Wenn Zigarrenrauchen, Gymnasiallehrereltern und veganes Essen noch immer zu unterhalten vermögen, muss Steinkopf etwas richtig gemacht haben.

Anna Prizkau ist in Moskau geboren, sie lebt in Berlin und beantwortet in ihrem Videoporträt die meistgefragten Fragen. Eingeladen ist sie vom Schweizer Literaturkritiker und Lonely Fighter in der Jury Philipp Tingler.

Prizkaus Text „Frauen im Sanatorium“ ist einer der motivreichsten Texte in diesem Wettbewerbsjahr. Aus der Perspektive einer Tochter einer Einwandererfamilie erzählt, mühen sich alle an den Menschen der neuen Heimat ab. Über die Angst um die Mutter heißt es: „Die Männer, die ich liebte, verstanden nicht, wie schwer sie war, und trennten sich. Manche nach einem Jahr, manche nach einem Monat. Immer,
wenn mich ein Mann verließ, dachte ich daran, dass Menschen sich verlieben müssen, und ich verliebte mich noch mal“. Die Jury ist von Prizkaus „Frauen im Sanatorium“ angetan. Endlich eine weitere Favoritin.

Die Kärntnerin Verena Gotthardt ist die jüngste teilnehmende Autorin. Die neue Jurorin und „Die Welt“-Literaturkritikerin Mara Delius hat sie zum Bewerb geholt. Ihr Text „Die jüngste Zeit“ kommt in vielen Sätzen ohne die Verben aus und ist voll Bilder einer Welt, die schon fast verschwunden ist: Das Leben am Land, in einem kleinen Ort am See, mit einem tot aufgefunden Fischer und weiteren Bildern, die an Hubert von Goiserns und Wolfgang Staribachers „Heast es nit“ erinnern. Doch in Goiserns Hit heißt es „Gestern nu’ ham d’Leut ganz anders g’redt“ und dieser Bruch fehlt in Gotthardts Text. Manche in der Jury loben gerade diese Leerstelle. Insgesamt fällt man sehr aus der Zeit mit diesem Text. „Das Kind nie wirklich verstanden wie aus dem Holz plötzlich ein Möbel. Weil wieder nur eine große Maschine mit einem Sägeblatt.“

Verena Gotthardt bei ihrer Lesung auf einem Bildschirm und die Jurorin Mara Delius

ORF Landesstudio Kärnten, Johannes Puch

Verena Gotthardt bei ihrer Lesung am Screen und die Jurorin Mara Delius.

Der Schweizer Lukas Maisel liest auf Einladung von Philipp Tingler. In seinem Text „Anfang und Ende“ tindert sich ein Protagonist aus seiner Beziehung. Und wie bei Katharina J. Ferner blitzt kurz die Pandemie auf. „Dieses Ellbogending ist echt blöd, wollen wir uns nicht einfach umarmen?“, fragte er. Sie nickte und sie umarmten sich.“

Der Grazer Fritz Krenn wurde vom Literaturwissenschaftler und Leiter des Grazer Literaturhauses Klaus Kastberger eingeladen. Und Fritz Krenn ist sichtlich begeistert wie sonst keiner und er tritt zum zweiten Mal beim Bewerb an. Sein Text „Mr. Dog“ ist eine Parabel auf den Literaturbetrieb, ein Autor kommt ganz schön in Bedrängnis: „Zwischen der Tischplatte und dem Knie des Autors war genau für diesen runden, fetten Staffordshire-Terrier-Schädel Platz geblieben. Plötzlich Ruhe“. Die Jury ist voll des Lobes.

Nadine Schneider wurde von Brigitte Schwens-Harrant zum Bewerb eingeladen und liest Samstagnachmittag „Quarz“. Eine Zuwandererfamilie in einem Dorf verhält sich ruhig, als eine Sachbeschädigung nach der anderen verübt wird: Jemand wirft Eier gegen die Fenster, stiehlt die Fußmatte und zerkratzt das Auto. Der Titel „Quarz“ betont, auf welch unsicherem Boden sich die Familie befindet.

Noch ein Favorit: Timon Karl Kaleyta

Der Deutsche Timon Karl Kaleyta liest Samstagvormittag und auf Einladung von Michael Wiederstein. Dieses Jahr ist schon Kaleytas Debütroman „Geschichte eines einfachen Mannes“ erschienen und auf den Kulturseiten deutschsprachiger Zeitungen beachtet worden.

Timon Karl Kaleyta sitzt an einem Schreibtisch bei seiner Lesung für den Bachmannbewerb.

ORF Landesstudio Kärnten

Timon Karl Kaleyta hat sich in den Kreis der Favorit*innen gelesen.

Im Text „Mein Freund am See“ versteigt sich ein Mann in eine Gewaltfantasie, die gegen einen Freund mit reicher Familie gerichtet ist. DDR-Hintergrund inklusive.
Insa Wilke nennt Patricia Highsmiths „Der talentierte Mr. Ripley“, Thomas Manns „Der Zauberberg“ und auch noch David Lynchs Serie „Twin Peaks“ als Verweise. Die Jury ist ziemlich inspiriert vom Text.

Morgen Sonntag ab 11 Uhr wird es noch einmal aufregend: Die Preisverleihung ist live auf 3sat und auf bachmannpreis.orf.at zu sehen. Und Samstagnachmittag können Zuschauer*innen für ihren liebsten Text abstimmen.

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