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Graphic Novel

In „Penelopes zwei Leben“ kommt ein Geist mit nach Europa

Judith Vanistendael ist Comicautorin und Illustratorin, sie lebt im Bezirk Moelenbeek in Brüssel. Gerade ist ihre vierte Graphic Novel auf Deutsch erschienen: „Penelopes zwei Leben“.

Von Anna Katharina Laggner

Das großteils aquarellierte Buch handelt von der Chirurgin Penelope, die im syrischen Aleppo für Ärzte ohne Grenzen arbeitet. Ihre 13-jährige Tochter und ihr Mann, ein Schriftsteller, sind zu Hause in Brüssel. Nach vier Jahren kommt Penelope zurück. Ein Geist hat sich in ihr Gepäck geschmuggelt.

In dieser Graphic Novel gibt es keinen Raum zwischen den einzelnen Bildern. Was in der Comicsprache als Gutter bezeichnet wird, also jene Lücke zwischen den Bildern, die von der eigenen Vorstellungskraft gefüllt wird, existiert in „Penelopes zwei Leben“ nicht. Hier fließt ein Bild unmerkbar ins nächste.

Aleppo – Brüssel – Leben retten – Teenagerprobleme - alles eine Welt

Als Illustratorin suche sie immer nach der eindringlichsten Form, um ihre Geschichten zu erzählen, sagt Judith Vanistendael. Daher sei alles aneinandergeklebt, „alles gehört zusammen, alles ist verwoben, Penelope kann nicht weg, sie hat keine Freiheit“.

Seiten aus der Graphic Novel "Penelopes zwei Leben"

Reprodukt

Nur mit Bildern erzählt Judith Vanistendael parallel von einer Notaufnahme in Aleppo, und der schlafenden, 13-jährigen Tochter in Brüssel. In Aleppo fließt Blut aus dem Bauch eines Mädchens. Penelope operiert, doch das Mädchen stirbt. In Brüssel wacht die Tochter mitten in der Nacht auf und blutet ebenfalls. Sie ruft ihre Oma an. „Deine Mutter war auch dreizehn, als sie ihre Tage bekommen hat“, sagt die Großmutter.

Penelope hieß die Frau von Odysseus. Das Idealbild einer Ehefrau: die geduldig Wartende, die ewig Webende. Gleichzeitig steht Penelope für die „Unergründlichkeit des Weiblichen“: das Listige, das Vieldeutige, ein gefährliches Terrain.

Judith Vanistendael sagt, der Krieg in Syrien sei nicht der Ausgangspunkt zu „Penelopes zwei Leben“ gewesen, sondern ein Konflikt, den sie selbst erlebt hat. Nämlich, wie schwierig es sei, zu arbeiten und als Mutter für die eigenen Kinder da zu sein. Ein feministisches Anliegen mit Homer und der Odyssee zu verknüpfen, das ist nicht unbedingt naheliegend. „Ich finde die Odyssee eine sehr schöne Geschichte“, sagt Judith Vanistendael, sie habe sie in einer Woche gelesen: „Ich war im Schock von der Position der Frau. Nicht, weil Homer das so beschreibt, das war damals so. Aber als ich dieses Buch gelesen habe, ist die Odyssee im königlichen Theater in Belgien auf die Bühne gebracht worden, ohne dass nur irgendjemand auch nur einmal gefragt hätte: Brauchen wir nicht eine Deutung über die Position der Frauen? Ist es nicht unglaublich, wie die Frauen bei Homer nur Hure oder Mutter sind und nur die Göttinnen dürfen herumficken? Keiner hat etwas gesagt!“ Daraufhin hat sie es anders gemacht.

Cover zu "Penelopes zwei Leben": Eine Frau als Chirurgin und in Ziviel

Reprodukt

„Penelopes zwei Leben“ ist in der deutschen Übersetzung von Andrea Kluitmann bei Reprodukt erschienen.

Judith Vanistendael hat eine Anti-Penelope geschaffen. Die Chirurgin aus Brüssel, unter deren Händen ein Mädchen in Aleppo stirbt, verfolgt keine Strategie. Sie ist direkt und praktisch. Im Krieg in Syrien wird sie gebraucht, ihre Tochter hat einen Vater und in Europa herrscht Frieden, so denkt Penelope.

Doch als sie nach vier Jahren zurück zu Mann und Tochter nach Brüssel fliegt, hat sie einen Geist im Gepäck. Es ist der Geist des verstorbenen Mädchens. Er klebt in Gestalt einer roten Silhouette an ihr, wenn sie eine Flasche Wein aus dem Regal holt. Er liegt auf dem Sofa neben dem Christbaum. Er kommt mit, wenn sie mit der Tochter eine Winterjacke kaufen geht.

Judith Vanistendael hat schon öfter Geister bemüht. In der ebenfalls aquarellierten Graphic Novel „Als David seine Stimme verlor“ erscheint David, kurz nachdem er die Diagnose Kehlkopfkrebs erhält, die eigene Großmutter und setzt ihm ein Kügelchen aus göttlichem Licht in den Hals. Oder in „Mikel - Die Geschichte eines Bonbonverkäufers, der sich im Regen auflöste“: Das in Grauschattierungen gemalte Buch dreht sich um einen spanischen Schriftsteller, der, um etwas zu erleben, Leibwächter eines Politikers im Baskenland wird und seine ganze Familie in das Schlamassel mit hineinzieht. In einem Bild taucht die Untergrundorganisation ETA hinter Mikel als riesiger grüner Lindwurm auf.

Seiten aus der Graphic Novel "Penelopes zwei Leben"

Reprodukt

So ein Geist sei sehr praktisch, sagt Judith Vanistendael, man könne doppelschichtig sein und subtextuell viel erzählen. Aber jetzt versucht sie keine neuen Geister mehr in ihre Geschichten zu bringen, der Geist des verstorbenen Mädchens in „Penelopes zwei Leben“ soll der letzte sein. Dieser Geist erinnert an die Zeit rund um das Jahr 2015, als die Schrecklichkeiten im weit entfernten Syrien und die Unmenschlichkeiten an Europas Grenzen die Nachrichten bestimmten: „Ich wollte zeigen, wie der Krieg auch bei uns ist, obwohl er 5.000 Kilometer entfernt ist. Der Krieg hat auch hier Einfluss. Es ist nicht so, dass alles schön getrennt ist. Man denkt, dass man sich abtrennen kann und dass man mit Frontex die Lösung hat. Das ist eine Lüge. Und das ist dieser Geist. Ich glaube, der wohnt bei uns allen.“

Homers Odyssee ist die Geschichte eines Mannes und seiner Irrfahrt über das Mittelmeer. Zehn Jahre lang irrt er umher, angewiesen auf die Gastfreundschaft der Bewohner der griechischen Inseln. Stets bekommt er zu essen, zu trinken und ein Bett. Der Kontrast zur Flüchtlingskrise an den Grenzen Europas könnte größer nicht sein.

Judith Vanistendael stellt der Geschichte über die Chirurgin und ihren Geist eine gezeichnete Reportage zur Seite mit dem Titel „Moria, im Abseits von Europa“. Diese Comicreportage ist auf Deutsch erstmals im April 2018 in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung erschienen. Sie beginnt auf dem Sofa in Brüssel. Judith Vanistendael mit ihrer Tochter, die die Mutter dafür beneidet, dass sie in ein sonniges Land fliegt. Und sie endet mit der Autorin zurück zu Hause, weinend. Dazwischen ihre Eindrücke von Moria.

Ursprünglich wollte Vanistendael nach Aleppo fahren, aber sie habe sich nicht getraut. So habe sie eine Einladung nach Lesbos genutzt, um das mittlerweile abgebrannte und wieder aufgebaute Lager Moria zu besuchen. Dort sind keine Kameras erlaubt. „Das einzige, was ich wirklich machen kann, ist dorthin zu gehen, wo keine Kameras erlaubt sind. Ich kann mit meinen Augen und meinem Gehirn fotografieren und nachher zeichnen. Da hab ich Waffen, die andere nicht haben. Und ich glaube, gerade weil man so frei ist, kann man mit Zeichnungen noch viel deutlicher machen, was man zeigen will und was man gesehen hat.“

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