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Szenenbilder aus "Cruella"

Walt Disney Company

Die Mutter ist an allem schuld!

Origin Stories geben Antworten auf Fragen, die niemand gestellt hat. „Cruella“ bastelt aus „Der Teufel trägt Prada“-Versatzstücken ein disneyfiziertes Revenge Movie. Emma Stone spielt die fiese „Madwoman“ mit der ikonischen Haarpracht, die Show wird ihr allerdings von Emma Thompson als superfiese Modeschöpferin gestohlen.

Von Pia Reiser

Es gibt die Momente, wenn man mit einer größeren Runde essen ist und der Kellner bringt eine Speise an den Tisch und es wird kurz ganz ruhig, weil man sich fragt, welche/r Wahnsinnige denn, sagen wir mal, Calzone Bolognese, bestellt hat. Ziemlich ähnlich wie bei der Betrachtung der Calzone Bolognese geht es mir mit nicht nur mit dem Film „Cruella“, sondern mit dem ganzen - ziemlich neuen - Genre, der Origin Story. Man schaut sich um und fragt sich, wer wollte das nochmal haben? Wer hat sich nachts rumgewälzt, weil er von der Frage gequält wurde, was denn im Leben von Cruella de Vil geschehen ist, dass sie zu einer bösartigen Modeschöpferin geworden ist, die aus dem Fell von Dalmatiner-Welpen einen Mantel machen will? Gerade Disney-Klassiker wie „101 Dalmatiner“, in dem Cruella de Vil 1961 ihren ersten Leinwand-Auftritt hatte, funktionieren unter anderem deswegen so gut, weil es HeldInnen und BösewichtInnen gibt, die in den Geschichten nicht psychologisiert werden.

Szenenbilder aus "Cruella"

Walt Disney Company

Das ominöse Böse verstehen oder noch schlimmer: erklären zu wollen geht filmisch so gut wie immer schief und läuft auch immer auf die gleiche Antwort hinaus: Kindheitstrauma bzw die Mütter sind an allem schuld. Oder halt in dem Fall: zähnefletschende Dalmatiner, die die Mutter der kleinen Cruella von einer Klippe stürzen. Cruella heißt damals eigentlich noch Estella - als Cruella haben sie und ihre Mutter nur die rabiate und boshafte Seite von Estella genannt, die immer wieder auftaucht. Estella ist aber auch kreativ und modeinteressiert und packt eine Punk-Attitüde in ihre Schuluniform, als noch nicht mal Malcolm McLaren von Punk zu träumen wagt.

Szenenbilder aus "Cruella"

Walt Disney Company

„Cruella“ läuft seit 18. Juni in den österreichischen Kinos und ist via Disney+ verfügbar

Als Waise landet Estella in London und schließt sich zwei kleinen Jungen an, die als Taschendiebe durch die Straßen ziehen - das sind natürlich Jasper und Horace, die beiden Cruella-Gehilfen, die es auch im Animationsfilm „101 Dalmatiner“ als auch in den beiden Realverfilmungen mit Glenn Close gibt. Ein Anspielen von „She’s a rainbow“ später sind die kleinen Strolche und die Welpenjägerin in spe auch schon erwachsen und als Con Artists in London unterwegs und kaum, dass „Time of the Season“ beim Refrain angelangt ist, beginnt Cruella auch schon in der Modebranche zu arbeiten und hat - kaum, dass „These boots are made for walking“ verklungen ist, eine Stelle bei der legendären, aber superfiesen Modeikone The Baroness und absolviert ihren ersten Arbeitstag dort zu „Feeling Good“.

Genervt von den Songaufzählungen? Versteh ich. Regisseur Craig Gillespie versucht hier im Fahrwasser von Martin Scorsese ein Zeitgeistgefühl durch (bekannte) Songs aus der Zeit, in der der Film spielt zu erreichen, dafür hat Scorsese ein bekannt gutes Gespür und auch Gillespie in früheren Filmen, doch bei „Cruella“ hat man spätestens nach einer halben Stunde einen Brummschädel von den zahlreichen angespielten „Mitsing“-Songs (insgesamt 37 an der Zahl!). Das beste Schmerzmittel gegen die Oldies-Jukebox im Dauerbetrieb ist Emma Thompson als The Baroness. In guter alter Disneylogik braucht die Hauptfigur - auch, wenn es sich um einen Bösewicht handelt - eine Gegenspielerin und The Baroness ist eine Spitzen-Nemesis.

Szenenbild aus "Cruella"

Walt Disney Company

Der Teufel trägt hier nicht Prada, sondern von Vintage-Dior inspirierte Kostüme und Haartürme, die selbst Marge Simpson erblassen lassen könnten. Überhaupt ist „Cruella“ visuell stellenweise ein Feuerwerk der Extravaganz, wenn man großzügiger Weise über einiges an holprigem CGI hinwegsieht. Wer generell Freude an Filmkostümen hat, wird an Cruellas Entwürfen und den Einflüssen von Vivienne Westwood und Alexander McQueen eine Freude haben. Die Kostüme also haute couture, die Geschichte eher ein Fleckerlteppich aus Märchen-Versatzstücken, Tim Burton light, workspace comedy und revenge thriller mit vielleicht einem Twist zu viel im Ärmel.

Schon in seinem letzten Film hat Craig Gillespie die Hintergrundgeschichte einer als Bösewichtin wahrgenommenen Frau erzählt: Margot Robbie ist in „I, Tonya“ in die Eislaufschuhe geschlüpft und hat Tonya Harding gespielt, die abgesehen von ihren Erfolgen auf dem Eis dafür bekannt geworden ist, dass sie jemanden engagiert haben soll, der ihrer Konkurrentin Nancy Kerrigan das Schienbein zertrümmert. Während „I, Tonya“ aber Spielfilm und Mockumentary großartig zu kombinieren wusste, wirkt „Cruella“ einerseits überladen und andererseits hohl, für Kinder - mit Elterntod und versuchtem Kindsmord - wohl zu düster, für Erwachsene vielleicht zu wenig düster. Das Spiel mit den Popkulturversatzstücken - vom Ende der Swinging Sixties in London bis zum Beginn von Punk - bleibt an der Oberfläche.

Wenn man sich, als der Film zu Ende ist, all die Refrains aus der Ohrwurmhölle aus dem Kopf geschüttelt hat und Florence & the Machines fast Bond-Song-artige Nummer „Call me Cruella“ ertönt, ist man dem Film aber doch eher wohlgesinnt und es liegt wohl an dem Zusammenspiel der beiden Emmas. Stone rückt Cruella nie auch nur in die Nähe eines ironischen Cartoon-Villain, sondern spielt Estella/Cruella als dramatische Heldin. Und Thompson ist in ihrer Ritsch-Ratsch-Rübe-ab-Attitüde wie eine eiskalte Herzkönigin, die Freude an bissigen Hunden und Elektroschockern hat.

Apropos bissige Hunde: Die Frage, wann denn Cruella zur potentiellen Hundekillerin wird, klärt „Cruella“ nicht, denn bei all der Misanthropie, die die schicke Fiese an den Tag legt, hat sie für eine Art von Lebewesen ein großes Herz - und das sind Hunde. Wer jetzt sherlockmäßig kombiniert, dass da ja dann noch Platz für ein Sequel zum Prequel wäre, der hat Recht, das soll bereits in Planung sein. Auf die Frage von Jasper wie es nun weitergeht, antwortet Cruella am Ende des Films mit „I have some ideas“. Hoffentlich geht es den DrehbuchautorInnen auch so.

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