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Garbage

FM4 Pop Diagnose: Nicht-suizidale Selbstverletzung

Im dritten Teil der FM4 Reihe über Songs, in denen mentale Gesundheit eine Rolle spielt, geht es um einen Song aus 2005: „Bleed Like Me“ von Garbage.

Von Susi Ondrušová

Was macht eine gute Popjournalist*in aus? Musik kennen, zuhören können und empathisch sein. Empathie zu haben, das ist „auch kein Fehler für einen Psychiater“, erzählt Paul Plener. Er muss es wissen, immerhin ist er Facharzt für Psychiatrie und aktuell Leiter der Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH. "Ich glaube generell, dass man immer so ein bisschen auch die ‚Drüber-Perspektive‘ haben sollte. Also empathisch zu sein, aber trotzdem im Hintergrund immer wieder sich zu überlegen, was passiert denn da gerade im Raum zwischen einem? Wir arbeiten ja oft mit Familien, also gleich mit mehreren Personen zusammen.“

Hilfe bei psychischen Problemen

Wenn du das Gefühl hast, du brauchst Hilfe, dann kannst du dich kostenlos und rund um die Uhr unter der Nummer 142 an die Telefonseelsorge wenden. Dort gibt es auch Chats und Online-Beratung.

Eine gute Übersicht über weitere Anlaufstellen findest du im Bereich Schnelle Hilfe auf der Website der Psychosozialen Zentren.

Paul und ich treffen uns ein weiteres Mal im FM4 Studio, um im Rahmen der FM4 Pop Diagnose über unsere Lieblingsthemen zu sprechen: Meines ist Shirley Manson von Garbage, Pauls Spezialgebiet sind Selbstverletzungen. Das Thema begleitet ihn schon seit dem Studium, als er seine erste Patientin trifft, die sich selbst verletzt. Das tut doch weh, warum macht man das? Wie häufig ist das? Wer macht das? Das sind die Fragen, mit denen er sich auch wissenschaftlich beschäftigt. Wenn er dieser Tage zum Beispiel die Tagung der „International Society for the Study of Self-Injury“ hostet, wenn er Bücher veröffentlicht mit dem Titel „Suizidales Verhalten und nichtsuizidale Selbstverletzungen“ und wenn er Projekte wie „Rocken statt Ritzen“ ins Leben ruft oder an der Universitätsklinik Ulm das Projekt „STAR“ (Self-Injury: Treatment, Assessment, Recovery) initiiert.

Das erste Mal hab ich die Sängerin von Garbage, Shirley Manson, tatsächlich erst 2016 am Nova Rock getroffen. Wir haben über das Album „Strange Little Birds” gesprochen, schweiften ab und redeten über Obsessionen! Auch ein Lieblingsthema von mir. „Then you and I will get along just great”, sagt sie und lacht laut.

Susi und Shirley Manson

Radio FM4

Ein Jahr später telefonieren wir und sprechen über das Garbage-Buch „This is the noise that keeps me awake“. Nach ihrer eigenen Erfahrung mit Selbstverletzung frage ich damals nicht. Auch nicht nach der Zeit, als sich Garbage während der Studioaufnahmen zu „Bleed Like Me“ fast zerstritten hätten und kurz sogar angedacht haben, den gleichen Therapeuten wie Metallica in „Some Kind Of Monster“ zu engagieren.

13 Jahre nachdem Garbage den Song „Bleed Like Me“ und das gleichnamige Album veröffentlicht haben, schreibt Shirley Manson in der New York Times über ihre eigenen Erfahrungen als Teenagerin und das Gefühl, als die Klinge das erste Mal ihre Haut berührt hat („The First Time I Cut Myself“).

Die Ich-Perspektive dieses Artikels kommt im Garbage-Song „Bleed Like Me“ nicht vor. Der Song ist episodenhaft erzählt, in jeder Strophe wird ein Charakter mit Namen besungen. In „Bleed Like Me“ erfahren wir von Avalanche, die hungert. JT trinkt, Speedie hingegen hat die Therapie als neue Droge entdeckt, Chris fragt sich, ob er ein Junge oder Mädchen ist, und Doodle greift zur Schere - „and when she does relief comes setting in“.

Ritzen also. Von Selbstverletzung spricht man, wenn es um eine „direkte Schädigung der Körperoberfläche“ geht, die öfter vorkommt. Laut DSM, einem diagnostischen und statistischen Leitfaden psychischer Störungen, würde man sagen, „selbstverletzendes Verhalten wird relevant, wenn es innerhalb des letzten Jahres an 5 oder mehr Tagen vorgekommen ist. Obwohl das natürlich eine willkürliche Schwelle ist und man alles, was Körpergewebe oberflächlich schädigt, reinrechnen könnte. Da zählen natürlich auch Verbrennungen dazu oder andere Methoden.“

Nicht-suizidale Selbstverletzung ist übrigens keine eigenständige Diagnose, sondern üblicherweise ein Symptom einer anderen zugrunde liegenden psychischen Erkrankung.

Warum fügt man sich also Schmerzen zu? Entgegen aller Vorurteile geht es nicht um Aufmerksamkeit. Paul dazu: „Es gibt um die 50 Studien, die sich mit genau dieser Frage beschäftigen. Eigentlich gibt es immer eine primäre Funktion. Das heißt nicht, dass das auf alle zutrifft, aber wenn man sich die Mehrzahl anschaut, dann ist es die Emotionsregulation. Das heißt, ich habe vorher einen angespannten, negativen Zustand, ich verletze mich selber, und der Zustand ist weg! Das dauert dann zwar nicht lange, etwa 30 Minuten, vielleicht eine Stunde, aber es funktioniert. Wir haben in den letzten Jahren auch zunehmend die Neurobiologie dahinter begriffen. Wir sehen vor allem im Gehirn, dass tatsächlich dieses hochregulierte System, wo es um Emotionsverarbeitung geht, durch den Schmerz runterreguliert wird.“

Vorsichtig nachgefragt, ob das heißt, dass Patienten keine Schmerzen fühlen, erzählt Paul, dass es tatsächlich zu einer Verschiebung der Schmerzschwellen kommt, die auch rückläufig ist, wenn Patienten mit den Selbstverletzungen aufhören.

Welche Patient*innen trifft Paul auf der Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie am AKH in Wien? Was viele seiner Patient*innen gemeinsam haben, ist irgendeine Form sozialer Zurückweisung. Bullying und Mobbing ist ein großes Thema, das zu einem 12-fach höheren Risiko führt, sich selbst zu verletzen. So wie Doodle in Song „Bleed Like Me“ mit der Schere in der Hand. Im Song kommt aber auch Chrissie vor, der versucht herauszufinden, ob er ein Junge oder ein Mädchen ist. Wie ist die Geschlechterverteilung bei Patienten, die sich selbst verletzen? Und von welcher Altersgruppe sprechen wir eigentlich?

„Typisches Beginnalter ist etwa zwölfeinhalb Jahre. Den Höhepunkt erreicht das etwa mit 15, 16 Jahren, dann flacht es wieder ab. Viele hören dann auch im jungen Erwachsenenalter auf. Nicht unbedingt, weil es ihnen dann zwangsläufig besser geht. Wir sehen da eher einen Shift Richtung Alkohol- und Drogenkonsum, wenn die ursprünglichen Probleme eben noch nicht bearbeitet sind. Wir sehen auch deutlich mehr junge Frauen als junge Männer, die sich selbst verletzen, etwa im Verhältnis 1:2. Und wenn wir von diesem Mädchen-Jungs-Ding weggehen, dann betrifft es besonders auch non-binary Menschen, da ist die Selbstverletzungs-Häufigkeit besonders hoch.“

Wenn wir schon von Emotionsregulierung sprechen und dabei emotionale Musik hören, lasst uns über die wissenschaftlichen Ergebnisse bei der Häufigkeit der Selbstverletzungen in bestimmten Szenen sprechen. Gibt es da einen Zusammenhang?

„Mittlerweile gibt es fünf Studien zum Thema - und sogar eine längsschnittliche - und die haben alle gefunden: Ja, das stimmt. Leute, die sich einer Goth- oder Emo-Szene besonders zugehörig fühlen, also sich stark damit identifizieren, haben auch häufiger Selbstverletzungen. Das ist schon insofern eine spannende Fragestellung, weil: Brauche ich das, um dazuzugehören oder gibt es zugrunde liegende Faktoren, die das miterklären können? Und die Gothic-Szene ist total spannend, weil sie sich so stark unterscheidet von vielen anderen Szenen. Also im Sinne von: vergleichsweise wenig Drogengebrauch und auch sehr wenig aggressiv. Das ist ein totaler Schutzraum. Wir wissen aus dieser Szene auch, dass es relativ hohe Raten an Leuten gibt, die Erlebnisse von Missbrauch oder Misshandlung gehabt haben, und die vielleicht deswegen auch diese Szene aufsuchen, weil sie eben so wenig aggressiv ist. Wir sehen das Gefühl von ‚Ich gehöre nicht zu dieser Gesellschaft‘ ganz häufig bei Leuten, die sich selbst verletzen, und dieses Gefühl ist auch sehr ausgeprägt in der Gothic-Szene. Also ich glaube, da gibt es eine große Schnittmenge.“

Was können wir nun aber machen, wenn wir im Sommer Narben am Körper von Freund*innen oder Verwandten sehen? Ansprechen? Nicht ansprechen? „Man kann das ansprechen. Es ist ja auch Teil der Lebensgeschichte, vor allem wenn die Wunden vernarbt sind. Es gibt viele, die dann drübertätowieren, aber das ist etwas, was sichtbar ist. Im Endeffekt haben viele damit einen Umgang gefunden. Eine Reaktion, die ich von einer Patientin gehört habe, war, dass sie von Fremden angesprochen wurde, was das denn ist und sie hat sich den Spruch zurechtgelegt: ‚Das ist Blindenschrift für Geht-dich-nichts-an!‘ Das ist natürlich harsch, aber irgendwann ist man wahrscheinlich auch so weit, dass man sagt, man will auch nicht mit jedem diskutieren, und das ist auch vollkommen in Ordnung.“

Wenn Paul als Arzt das erste Mal eine Patientin mit Narben und Wunden trifft, dann ist sein erster Schritt ein klassisch medizinischer: „Ist die Wunde gerade frisch? Ist sie infiziert? Da fängt es an, vorher braucht man nicht weitertun. Es geht ganz am Anfang auch darum, ob das Thema Suizidalität eine große Rolle spielt? Muss ich das aktuell auch beachten? Weil das schlägt erstmal alles. Selbstverletzen kann man sich jahrelang, aber wenn man einen Suizidversuch begeht, kann es auch das letzte Mal gewesen sein. Deshalb geht es vor allem darum herauszufinden, was passiert davor? Was sind also Beweggründe? ‚Wobei hilft es dir?‘ Das ist so meine Standardfrage, weil keiner macht das aus Jux und Tollerei, sondern es hat ja eine Funktion.“

In der Therapie geht es darum, die zugrunde liegende psychische Erkrankung oder die Probleme, die Patient*innen zu Selbstverletzungen veranlassen, zu behandeln, zu besprechen und Alternativen zur Emotionsregulierung zu finden. Nicht-suizidale Selbstverletzung gilt nämlich als ein Risikofaktor für zukünftige Suizidversuche. Aber therapeutisch gibt es, wie Paul sagt, gute Prognosen und Möglichkeiten dieses Kapitel der Selbstverletzung hinter sich zu lassen. So wie Shirley Manson von Garbage oder andere es geschafft haben, damit umzugehen.

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