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FM4 Pop Diagnose: Bipolare Störung

Im vierten Teil der Serie über Popsongs und mentale Gesundheit sprechen wir über bipolare Störungen und Kanye Wests Song „Yikes“.

Von Susi Ondrušová

Kanye West verwirrt mich. Seit immer. Die Musik nur zum Teil, aber seine wirren Gedankensprünge auf Twitter lassen sich für Fan-Beobachter manchmal schwer einordnen. Was meint er jetzt? Geht’s ihm gut? Ist das alles normal? Über das Wort „normal“ und was das in Bezug auf Menschen und Psyche bedeutet, könnte man stundenlang sprechen. Normal ist manchmal einfach nur das, was wir kennen. Kenne ich Kanye West? Nein. Ich weiß, wann er sein erstes und letztes Album veröffentlicht hat und wie es klingt. Ich weiß, er hat sich als Präsidentschaftskandidat versucht und ist mit Donald Trump befreundet. Ich weiß, er hat auf Twitter seine Schwiegermutter mit einem Diktator verglichen. Ich weiß, er ist Vater, Geschäftsmann, Fashiondesigner, Musiker, Produzent. Aber weiß ich, was für den Milliardär Kanye West normal ist?

Hilfe bei psychischen Problemen

Wenn du das Gefühl hast, du brauchst Hilfe, dann kannst du dich kostenlos und rund um die Uhr unter der Nummer 142 an die Telefonseelsorge wenden. Dort gibt es auch Chats und Online-Beratung.

Eine gute Übersicht über weitere Anlaufstellen findest du im Bereich Schnelle Hilfe auf der Website der Psychosozialen Zentren.

2019 hat Kanye West bei einem Interview mit David Letterman das erste Mal über seine Erkrankung gesprochen. In „My Next Guest Needs No Introduction“ hat er sein Gehirn als „verstaucht“ beschrieben, wie einen verstauchten Knöchel, und er hat über die Höhen und Tiefen in seinem Leben mit der Diagnose einer Bipolaren Störung gesprochen.

Paul Plener ist Facharzt für Psychiatrie und aktuell Leiter der Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie im Wiener AKH. Mit ihm unterhalte ich mich hier im Rahmen der FM4 Pop Diagnose über Musik und psychische Gesundheit. Er ist vom Fach und kann uns erklären, was eine Bipolare Störung bedeutet: „Bipolarität ist - wie der Name schon sagt - das Pendeln zwischen zwei Polen. Klassischerweise versteht man darunter, dass man einerseits depressive Phasen und andererseits manische Phasen hat. Früher hat man auch ‚manisch-depressiv‘ dazu gesagt. Es braucht also mindestens diese zwei Ausprägungen, es kann aber auch eine abgeschwächte Form der Manie geben, die Hypomanie.“

Der Song, um den es heute gehen soll, „Yikes“ von Kanye West, ist lyrisch ein bisschen all over the place. Es werden Drogen aufgezählt, TMZ wird auf DVD gereimt, Zombie auf Gandhi. #MeToo wird erwähnt. Es wird eine Art Kräftemessen besungen: Im Song schließt sich der Teufel sogar zu einer Armee zusammen. Kanye West rappt von sich selber in der dritten Person und gegen Schluss kommt der zentrale Satz, der uns für die Episode über Bipolare Störungen so passend erschienen ist: „That’s my bipolar shit, that’s my superpower, I’m a superhero! I’m a superhero!“, heißt es im Song, bevor Kanye zu einem Kreischen ansetzt, von dem man nicht weiß, ob es Verzweiflung oder Erleichterung ist. Das Album, auf dem der Song zu finden ist, heißt zwar „Ye“, aber das Albumcover ziert die Zeile: „I hate being bipolar. It’s awesome.“

Zwei Pole, das Pendeln zwischen Höhen und Tiefen also. Die „Superpower“ im Song entspricht dem Zustand, den bipolare Patient*innen in einer manischen Phase empfinden, erzählt Paul Plener: „Gemeint ist tatsächlich ein erhöhtes Energielevel. Leute brauchen auch weniger Schlaf und subjektiv kriegen sie einfach viel mehr geschafft. Das ist manchmal ein stückweit durcheinander, wenn es wirklich in die Manie gleitet, und oft verbunden mit großen Fantasien, die irgendwann auch schädlich werden können. Aber für die Leute fühlt es sich subjektiv erstmal genau so an, also wie Superpower.“

In einer depressiven Phase ist man antriebslos, in einer manischen Phase fühlt man sich aber unbesiegbar. Das ist keine gute Grundlage für so etwas wie „Krankheitseinsicht“ oder „Leidensdruck“. Zu jemandem mit diesen Symptomen durchzudringen, so dass er oder sie auch erkennt, dass Hilfe nötig ist und ein Problem besteht, dafür braucht es das enge Umfeld, die Angehörigen und Freund*innen, die erkennen, wann ein ungewöhnliches und ein „anderes“ Verhalten auftritt.

„Die Frage ist, wann wird es zur Krankheit? Wo fängt es an, dass meine Funktionen beeinträchtigt werden, dass ich mein tägliches Leben nicht mehr leben kann, ich zum Beispiel einfach nicht mehr zur Arbeit gehe, weil ich ganz andere Pläne habe. Längerfristig kann mir das natürlich schaden, wenn ich da nicht auftauche. Das geht auch hin bis zu Ideen, dass man die Fähigkeit hat zu fliegen. Das gibt es durchaus nicht nur im Film, sondern auch real und das wird natürlich dann gefährlich, wenn man es in die Tat umsetzt. Oder auch dieses Overspending, das Einsetzen von sehr viel Geld, weil man denkt: ‚Ja gut, ich hab da eh eine Geschäftsidee und jetzt kaufe ich mir den Ferrari mal, weil das Geld wird schon reinkommen.‘ Wenn dann ganz klar ist, jemand war gerade in einer manischen Episode, dann gibt es da eventuell auch juristische Möglichkeiten, solche Käufe wieder rückabzuwickeln. Weil natürlich die Geschäftsfähigkeit von Personen beeinträchtigt sein kann.“

Paul meint, man kann Betroffenen durchaus sagen, wenn man sich Sorgen macht, und sie dann bitten, sich für einen selbst, also dem Freund oder der Freundin zuliebe, mit einem Experten auszutauschen. "Das ist eine Möglichkeit. Ansonsten werden Patienten auch von der Polizei gebracht, zum Beispiel wenn im öffentlichen Raum etwas vorgefallen ist. Das ist ein Weg, wie jemand gegen seinen Willen in die Psychiatrie kommt. Die erste Phase muss aber nicht zwangsläufig eine manische oder eine hypomane Phase sein. Wenn jemand als erste Phase eine depressive Episode erlebt und sich dann, weil es sich eben nicht gut anfühlt, schon Hilfe besorgt hat, dann kann es auch sein, dass er oder sie auf diese Hilfe zurückgreift, wenn es eben umschlägt.“

Bipolare Störungen haben einen langjährigen Verlauf, der von mehreren Episoden geprägt ist. „Unbehandelt kann eine Phase im Schnitt etwa vier Monate dauern. Es gibt natürlich breite Spielräume von ein paar Tagen bis zu mehreren Monaten. Es ist aber gar nicht so leicht, unbehandelte Episoden zu finden, weil in aller Regel fällt es dann doch dem Umfeld auf, oder die Personen werden auffällig im öffentlichen Leben. Dann gibt es eine Behandlung und dann wird diese Episode abgekürzt.“

Paul Plener

Radio FM4

Wie entsteht aber eine Bipolare Störung? Im Vergleich zu einer Depression spielen genetische Faktoren eine noch ausgeprägtere Rolle, das weiß man aus Zwillingsstudien. Es können aber auch Umweltbedingungen eine Rolle spielen, Drogenkonsum sowie belastende… Stopp! Hier falle ich meinem Gesprächspartner ins Wort, denn belastende Lebensumstände, das fasziniert mich! Je länger ich mich mit mentaler Gesundheit beschäftige, desto mehr denke ich darüber nach, wie viel es bedeutet, von klein auf ein gesundes Selbstwertgefühl zu entwickeln. Wenn DAS in der Kindheit und später in der Pubertät nicht möglich ist, ist das schon eine Ursache oder ein Risikofaktor für mentale Probleme? Lassen wir Paul dazu ausreden:

„Das ist vielleicht eine einfache Frage, aber leider kommt man um eine komplexe Antwort nicht herum. Wir sind ganz häufig in der Psychiatrie - und das gilt auch für die restliche Medizin - an dem Punkt, wo wir sagen, es gibt einfach ganz viele verschiedene Einflüsse. Frühe Kindheitserlebnisse von Vernachlässigung, Missbrauch, körperliche, sexuelle, aber natürlich auch psychische Misshandlungen, die spielen eigentlich so als Grundkonstante in allen psychischen Erkrankungen als Risikofaktor eine Rolle. Aber man geht ja auch irgendwann aus der Kernfamilie raus, und dann haben wir auch draußen soziale Kontakte. Was konsumieren wir so an Substanzen und vor allem in welcher Phase der Hirnreifung? Das spielt auch eine Rolle. Dann passieren Dinge, die unvorhergesehen sind oder schrecklich, also traumatische Ereignisse, die auch die Wahrscheinlichkeit für Krankheiten erhöhen können. Basierend auf meinen primären Erfahrungen in der Familie tendiere ich - wenn ich da nicht sehr gut im Reflektieren bin - dazu, immer wieder ähnliche Erfahrungen im Leben anzuhäufen oder in schwierigen Situationen auch zu aggravieren.“

Bei der Behandlung von Bipolaren Störungen geht es um Stimmungsstabilisierung. Manische und depressive Phasen werden mit verschiedenen Medikamenten behandelt, die je nach Schweregrad der Symptome und Dauer der Episoden individuell auf die Patient*innen abgestimmt werden. Neben dieser medikamentösen Behandlung ist auch regelmäßige Psychotherapie wichtig, um die eigenen Symptome besser verstehen zu lernen und bei zukünftigen manischen oder depressiven Episoden gegensteuern zu können. Bei der Psychotherapie geht es darum, die eigene Lebenssituation mit professioneller Hilfe zu verbessern, um für den Alltag gerüstet zu sein, für all die Herausforderungen von Familie und Freund*innen, Studium und Job.

Ach ja, und dann war da noch etwas: „Lithium“, der Song von Nirvanas „Nevermind“-Meisterwerk, schon mal gehört, oder? Lithiumsalze werden auch bei Bipolaren Störungen verschrieben. Und Lithium ist eines der wenigen Medikamente mit antisuizidalen Eigenschaften.

Kanye West hat in seinem Interview bei David Letterman gesagt, dass sich seine Erkrankung anfühlt wie ein „verstauchtes Gehirn“. Er sprach darüber, dass man einen verstauchten Knöchel nicht belasten soll, aber „wenn unser Gehirn verstaucht ist, tun die Leute alles, um es noch schlimmer zu machen“. Der Druck, der auf den Schultern von prominenten Personen lastet, ist enorm. Sie tragen eine riesige Verantwortung: Sie können helfen, das Stigma rund um psychische Krankheiten abzubauen, können mit ihren Aussagen die Berichterstattung und die Öffentlichkeit aber auch negativ beeinflussen.

Paul über die Rolle von Medien bzw. Celebrities, die über ihre mentale Gesundheit in der Öffentlichkeit sprechen: „Solange jemand in der Lage ist, darüber zu reden, ist es ein Signal von ‚Hey, mich gibt’s noch‘ und idealerweise auch ‚Ich hatte eine schwierige Zeit, hab mir Hilfe geholt, jetzt geht’s mir wieder besser!‘ Das sind Dinge, die extrem dazu beitragen können, Stories von Gelingen näher zu bringen und zu sagen ‚Es ist nicht das Ende, wenn man eine psychische Krankheit hat!‘ Genauso wenig, wie es das Ende ist, Diabetes Typ 2 zu haben. Wir müssen das in den Rahmen der Normalität zurückbekommen. Das einzige, wo ich mich schwer tue in puncto Celebrity und darüber zu sprechen, sind Suizide. Weil wir sehr genau wissen - das ist immer und immer wieder gezeigt worden - dass dieser sogenannte Werther-Effekt (Nachahmungs-Effekt) bei Suiziden existiert. Da fängt es an, schwierig zu werden, wenn ich da eben nicht dieses ‚Du kannst dir Hilfe holen und dann passiert auch etwas Gutes‘ habe, sondern der Suizid für sich genommen so im Raum stehen gelassen wird als Lösungsmöglichkeit. Das passiert ganz häufig bei Suiziden von Celebritys, ob bei Avicii oder Kurt Cobain.“

Man kann Kanye Wests überteuerte Turnschuhe blöd finden, kritisieren, dass seine (Noch-)Ehefrau ihr gemeinsames Leben in die Reality-TV-Auslage stellt, man kann sein Album „Ye“ oder „My Dark Twisted Fantasy“ als überbewertet bezeichnen, aber für seinen Mut, über seine Krankheit zu sprechen und anderen ein positives Vorbild zu sein, dafür gebührt ihm Applaus.

Hilfe bei psychischen Problemen

Wenn du das Gefühl hast, du brauchst Hilfe, dann kannst du dich kostenlos und rund um die Uhr unter der Nummer 142 an die Telefonseelsorge wenden. Dort gibt es auch Chats und Online-Beratung.

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