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Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

Wenn sie so tun müssen, als liebten sie Raheem

Warum es dann doch die richtige Entscheidung ist, ein angeblich marxistisch unterwandertes Englandteam zu unterstützen.

Von Robert Rotifer

Ich habe der Redaktion gesagt, ich würde was über das Match gestern schreiben, was Leichtes einmal, und jetzt im Zug vorm Laptop fällt mir wieder ein, warum ich den Männerfußball ja eigentlich ignorieren hatte wollen.

Wegen der Chuzpe grundsätzlich.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Weil ich hier schon wieder mit Maske und angelaufener Brille sitze (und vorhin auf dem offenen Bahnsteig stand), weil sie mir gerade wieder den Flug nach Wien abgesagt haben (nachdem Brit*innen nach Österreich – es sei denn in Begleitung von Österreicher*innen, mit denen sie zusammenleben – immer noch nicht einreisen dürfen, kann British Airways offenbar seine Flieger nicht füllen). Und weil ich weiß, wie steil der Infektionsgraph hier nach oben zeigt, während sich gestern in Wembley 45.000 Leiber aneinander rieben, als wäre nichts dabei.

So, als wären nicht immer noch sämtliche Festivals abgesagt, weil Musikhören im Freien so viel gefährlicher ist als Fußball-Schauen (die Daten der groß angekündigten Test-Konzerte vom Frühling bleiben beharrlich unveröffentlicht). In den Morgennachrichten reden sie immer noch von „Bubbles“, die einzuhalten seien, und auf der Titelseite meiner Zeitung sehe ich Bilder von vollen Rängen. Und ich sehe schon kommen, wie wir dafür bezahlen werden.

ANDERERSEITS ist es dann doch passiert, dass ich mich emotional auf dieses Sportdings eingelassen habe. Eigentlich ja nur, weil die Kolleg*innen vom deutschen Radio was über den neuen Englandsong wissen wollten, und ich mich näher damit auseinandersetzen musste. Hier ist er:

Da ich mir nicht so kompetent vorkam, den Song zu beurteilen (man muss auch seine Grenzen kennen...), hab ich Mahdi Rahimi vom FM4 HipHop Lesekreis nach seiner Meinung dazu gefragt.

Seine Antwort war diplomatisch und schlüssig: „Es ist wie immer bei solchen Sachen: Es geht mehr um Symbolpolitik als den eigentlichen Song (Grenfell am Anfang z. B.). Und von dem her ist es super.“

Seh ich auch so.

Die angesprochene Symbolpolitik liegt natürlich schon in der blanken Tatsache, dass ein Schwarzer Rapsong das multiethnische Englandteam repräsentiert. Aber um die dabei mitschwingenden Issues besser zu verstehen, hilft es, sich „We Are England“, eine Doku des Jugendnischenkanals BBC3 zur Entstehung des Tracks, anzusehen (ich hoffe man lässt euch).

In Kürze zusammengefasst: Man sieht, wie die Rapper Krept & Konan durchs Land fahren und mit Fußballer*innen über ihre Herkunft und ihren Werdegang sprechen. Und darüber, was sie sich von einem Song erwarten, der sie repräsentieren soll. Zwischendurch schauen Krept & Konan sich die Videos früherer Fußballsongs wie „World in Motion“ von New Order (mit der Rap-Einlage von John Barnes) und natürlich des ’96er-Songs „Three Lions“ von Baddiel, Skinner und The Lightning Seeds an. Als Nachschlag dazu die Episode der damaligen Fußball-Comedyserie „Fantasy Football“, in der David Baddiel sich mit einer halben Ananas auf dem Kopf als der Schwarze Fußballer Jason Lee verkleidet und Frank Skinner in der Rolle seines Trainers an seinen gefaketen Rastalocken kaut, als wären sie Nudeln.

Beide Komiker haben sich seither davon distanziert bzw. dafür entschuldigt (aber offenbar nicht bei Jason Lee), doch der Schock bei Krept & Konan darüber, was vor einem Vierteljahrhundert alles noch reinging, ist spürbar roh.

Nun mochte ich damals „Three Lions“ selbst ziemlich gern, und man kann den alten Song nicht nachträglich mit jenem bedenkenlos rassistischen Baddiel-&-Skinner-Sketch vermengen, der – stellen wir das einmal klar – einem auch damals die Zehennägel aufgerollt hätte (die ironieverliebten Neunziger suhlten sich gern in der Peinlichkeit von Dingen, die scheinbar offensichtlich „wrong“ waren. Man ging dabei davon aus, dass die Witzelnden und ihr Publikum es eigentlich besser wüssten, eine im Nachhinein, wie soll man sagen, OPTIMISTISCH scheinende Prämisse. Wie sich die Betroffenen dabei fühlten, überließ man ihrem „Sinn für Humor“). Aber beides zusammen zeigt, wie vollkommen anders die Welt ist, aus der die heutige, durchschnittlich im Erscheinungsjahr von „Three Lions“ geborene, junge Englandmannschaft kommt.

Die zusätzliche Pointe ist allerdings nicht in der Doku drin. Nämlich, dass ich den Englandsong, den Krept & Konan da hervorgebracht haben, bisher noch in keiner der Übertragungen gehört habe, „Three Lions“ dagegen überall. Und das ist kein Zufall, denn dieses Team und die Wahrnehmung des Turniers aus englischer Sicht steht inmitten eines hochpolitischen Kulturkampfs. Eines Wütens zwischen zwei verschiedenen Selbstbildern Englands, das von jeder/m Stellungnahme fordert.

Einer der in der Doku interviewten Spieler ist Tyrone Mings, der die aus der amerikanischen Black-Lives-Matter-Bewegung kommende Geste des Taking The Knee als Zeichen der Solidarität mit den Opfern rassistischer Gewalt im Englandteam einführte.

Eine Geste, die zur Folge hatte, dass ebendieses Team von seinen eigenen Fans ausgebuht wurde. Teamtrainer Gareth Southgate sah sich dazu veranlasst, unter dem Titel “Dear England“ eine Solidaritätserklärung an sein Team zu verfassen. Ich muss zugeben, ich fand den Text nicht so gut wie die meisten auf meiner Timeline, er strotzt vor angestrengtem Nationalstolz, unterfüttert mit militärischen Familiengeschichten, paradoxem Wir-sind-besser-im-vorurteilsfrei-Sein-als-alle-anderen-Exzeptionalismus und der im Fußballkontext so populären, überhaupt nicht hilfreichen Behauptung, Antirassismus habe nichts mit „Politik“ zu tun. Aber Southgate spricht auch ein paar Dinge klar aus, die man von einem Englandtrainer so bisher noch nicht gehört hat:

„Warum würde man jemand wegen seiner Hautfarbe beleidigen wollen? Warum? Leider habe ich ein paar schlechte Nachrichten für die Leute, die so ein Verhalten an den Tag legen. Ihr seid auf der Verliererseite. Für mich ist klar, dass wir auf dem Weg in eine viel tolerantere und verständnisvollere Gesellschaft sind, und ich weiß, dass unsere Burschen ein großer Teil davon sein werden.
Vielleicht fühlt es sich manchmal nicht so an, aber es ist wahr. Das Bewusstsein rund um Ungleichheit und die Diskussionen über Rassismus haben allein in den letzten 12 Monaten einige andere Ebenen erreicht.
Ich bin überzeugt, dass die jungen Kids, die heute aufwachsen, von den alten Einstellungen und Denkweisen vollkommen befremdet sein werden.
Für viele in dieser jüngeren Generation gilt, dass euer Begriff vom Englischsein ziemlich anders ist als meiner. Das verstehe ich auch.
Ich verstehe, dass wir auf dieser Insel ein Begehren haben, unsere Werte und Traditionen zu beschützen – so sollte das auch sein –, aber das sollte nicht auf Kosten der Selbstbetrachtung und des Fortschritts gehen.“

Natürlich hat Southgates Artikel die in Großbritannien blühende Anti-Wokeism-Industrie in den Medien, die vorgibt, für den normalen Fan zu sprechen, nicht zum Verstummen gebracht. Das knieende, multiethnische Englandteam wurde von der Rechten vielmehr als eine Art fünfte Kolonne einer „marxistischen“ Black-Lives-Matter-Bewegung enttarnt.

Es ist schon erstaunlich: Man kann den schwindelerregende Summen verdienenden Fußballern wohl vorwerfen, sich am turbokapitalistischen Ausbeutungssystem des Fußballgeschäfts zu bereichern (so wie das etwa Marcus Rashford erging, als er sich für hungernde Schulkinder engagierte). Um diese Jungmillionäre mit Hang zum Luxuskonsum gleichzeitig als Marxisten zu enttarnen, die die Jugend mit gefährlich egalitärer Denke vergiften, braucht es allerdings eine magische Zutat, und die würde ich dann doch eindeutig Rassismus nennen.

Heute jedenfalls, wo alle wieder das Englandteam lieben, lässt sich leicht vergessen, dass noch vor zwei, drei Wochen ein konservativer Parlamentsabgeordneter erklärte, er würde die Spiele dieses Englandteams wegen der antirassistischen Kniebeugen boykottieren. Oder dass es nach einem Wischi-Waschi-Statement am 7. Juni fünf Tage brauchte, bis auch der Buffo-Churchill in der Downing Street sich dazu hinreißen ließ, sich gegen das Ausbuhen jener Mannschaft auszusprechen, der er dann gestern im Beisein seines Hof-Fotografen vor dem Fernseher zujubelte.

Aus diesen Gründen hab ich, trotz meiner gegenläufigen Instinkte, nun doch zu diesem Englandteam gehalten. Nicht, weil ich – wie vielerorts geschrieben – glaube, dass ein Fußballteam den Begriff des Englischseins reformieren wird. Dazu ist es für die reaktionäre Seite dieses Kulturkampfs, repräsentiert vom Großteil der Medien und nicht zuletzt der Regierung, viel zu leicht, den Sieg des eigenen Teams – noch dazu gestern über die Deutschen – in ihr neonationalistisches Narrativ einzuordnen.

Aber immerhin sind wir dem bei einer Niederlage unvermeidlich drohenden Backlash gegen dieses auf produktive, progressive Weise politisch engagierten Team entgangen, und The Sun und Konsorten müssen nun heuchlerisch so tun, als hätten sie Raheem Sterling immer schon geliebt.

Zumindest bis nächste Woche.

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