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Vogelhäuschen in englischem Garten

Robert Rotifer

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Fahnenflucht in Middle England

Bevor wieder Ruh’ ist, kommt erst einmal noch das Finale. Und wie es sich für einen Korrespondenten gehört, hab ich einen Stimmungsbericht eingeholt. Direkt aus dem Herzen von Middle England, aber nicht mit dem erwarteten Ergebnis.

Von Robert Rotifer

Jetzt ist es ganz ungeplant also doch eine kleine Serie geworden hier. War ja auch nicht meine Entscheidung, dass England dauernd gewinnt im Männerfußball.
Beim letzten Mal hatte ich noch davon geschrieben, warum ich dafür bin, dass das auch im letzten Match noch so weitergehen wird.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

In der Zwischenzeit hat allerdings Trainer Gareth Southgate, den wir in der letzten Folge noch als einen Agenten der woken Weltverschwörung sahen, ein paar eher dubiose Dinge von sich gegeben, die dazu gedacht scheinen, den nationalistischen Flügel der Fans zu befrieden.

„Man hat schon oft versucht, uns zu erobern, und wir hatten den Mut, das abzuwehren“, verstieg Southgate sich in einem Interview mit AP News doch noch zu bisher gemiedenen Kriegsvergleichen: „Man kann nicht verbergen, dass ein Teil der Energie im Stadion gegen Deutschland damit zu tun hatte. Ich habe das den Spielern gegenüber nie erwähnt, aber ich weiß, dass das Teil dieser Geschichte war.“

Gut, dass er’s nicht erwähnt hat, er hätte es ruhig auch weiterhin für sich behalten können. Aber jetzt, wo’s schon einmal draußen ist, dient es halt zur Erinnerung, dass auch Southgate letztlich eben ein ziemlich guter Fußballtrainer ist und kein Philosoph, Historiker oder Politiker. Und als ersteres hat er offenbar auch genug Menschenkenntnis, um zu merken, dass die Generation Fußballer, mit der er arbeitet, mit dieser Art von Narrativ nicht mehr zu motivieren ist.

Interessant jedenfalls, wie der „progressive Patriotismus“, wann immer er ausgerufen wird, dann jedes Mal erst recht wieder in seine alte, reaktionäre Version umschlägt. Man könnte fast zu dem Schluss kommen, das Konzept gehe sich irgendwie grundsätzlich nicht aus (Wie ich ja schon in der vorletzten Kolumne erwähnte, war auch Southgates wegen der Unterstützung für den antirassistischen Geist seiner Spieler vielgelobter „Dear England“-Brief für die Website Players’ Tribune nicht frei von mühsamen militärischen Referenzen gewesen).

Der jungen Spieler eigene Perspektive wird jedenfalls nirgendwo besser repräsentiert als in Raheem Stirlings exzellentem, autobiographischen Text auf derselben Plattform (keine Spoiler, aber bitte lesen!), der auch gut erklärt, warum sich an meinem positiven Standpunkt zu diesem spezifischen England-Team nichts geändert hat.

Physisch dagegen sitz ich gerade ganz woanders, nämlich bei einer befreundeten Familie, die ich schon seit einem gefühlten Jahrzehnt nicht gesehen hab.

Maggie und John (Namen nicht geändert, sie sind einfach zu gut) sind wahrscheinlich die dem Klischee nach englischsten Menschen, die ich kenne, und zwar auf die denkbar liebenswerteste Art, aber auch aus einer völlig anderen Welt. Sie leben in einem idyllischen Winkel von Surrey, er war Lehrer an einer der teuersten Privatschulen des Landes (weil sein Vater auch schon einer gewesen ist), sie ist Pfarrerin der Church of England. Ich sag’s ja, an Englischsein nicht zu toppen.

Gedenkhäferl für Charltons Auswärtssieg gegen Arsenal 2001

Robert Rotifer

Sie sind dazu auch noch ziemliche Fußball-Fans, im Genaueren Anhänger*innen des Südlondoner Charlton FC. John trinkt seinen Tee aus einem Häferl, das an Charltons denkwürdigen 4:2-Auswärtssieg gegen Arsenal in Highbury am 4. November 2001 erinnert. In ihrem Wohnzimmer steht auf der Anrichte ein Gartenzwerg im Charlton-Dress. Man könnte sagen, sie meinen es ernst mit ihrem Fußball.

Gartenzwerg im Charlton-Dress

Robert Rotifer

Umso verblüffender kam ihre Antwort auf meine Frage nach ihren Gefühlen zum Finale.

„Ich will eigentlich nicht, dass England gewinnt“, sagte Maggie ohne zu zögern. Schon allein, weil die Fans beim Dänemark-Spiel schon wieder bei der gegnerischen Nationalhymne gebuht hätten: "Das war einfach entsetzlich. Und die Sache mit dem Laser-Strahl, den sie beim Elfmeter ins Gesicht des dänischen Tormanns geleuchtet haben? Sowas kann man nicht belohnen. Es ist schon schade, weil ich ja wirklich viel von den Spielern halte. Sterling, Saka, Rashford, das sind alles Leute, denen ich es wirklich gönnen würde. Aber was es mit der Stimmung hier in England anrichten würde, wenn sie gewinnen, das wäre wirklich nicht gut für das Land.“

John sieht das ganz genauso. Wenn er die englische Berichterstattung mitverfolgt, fühlt er sich plötzlich stark an seine irischen Wurzeln erinnert (sein Großvater kam von dort her). „Das ist mein keltisches Blut“, behauptet er (ironisch nichtironisch), „alle Kelten wollen England verlieren sehen.“

Er wird aktiv zu Italien halten, so sehr stößt ihn die bloße Vorstellung davon ab, „wie so Typen wie Johnson oder (Innenministerin) Priti Patel einen Sieg für sich verbuchen würden. Das wäre unerträglich.“ Klar, das wäre es wohl, aber deshalb gleich die Seiten wechseln, so knapp vor dem historischen Dings?

Ich gebe ja zu, John und Maggie sind nicht so repräsentativ für die englische Mitte, wie ihre obigen Kurzbeschreibungen sie aussehen lassen. Es gibt schließlich einen Grund, warum man mit ihnen schon ewig befreundet ist (langfristiges Ergebnis einer Begegnung unter Eltern in einem Kinder-Club, normalerweise hält sowas ja nicht an). Ich wusste also, dass sie für exzentrische Standpunkte gut sind.

Trotzdem hat mich ihre ausgesprochene Fahnenflucht dann doch überrascht. Und wenn ich mir so meine Twitter-Timeline ansehe, dann wird klar, sie sind damit ganz sicher nicht allein. Was immer also bei diesem Finale passiert, ihr solltet wissen, es wird Leute hier geben, die sich freuen, so oder so.

Ich ja auch. Von mir aus sollen sie ruhig gewinnen. Nach fünf Jahren Brrrxxxt kann mich selbst die Aussicht auf noch ein bisschen nationalen Taumel mehr nicht sonderlich erschüttern, ein jenseitiges Southgate-Interview macht noch nicht zunichte, wofür diese Mannschaft steht, und als Social Justice-Aktivist mit Pokal hätte Marcus Rashford sozusagen den Supertrumpf in der Hand, wenn die Regierung wieder einmal die Schulkinder hungern lässt.
Andererseits kennen Maggie und John ihre Landsleute noch ein bisschen besser als ich, und stimmt schon, ein bisschen Abkühlung täte denen ganz gut.

Mir ist ab jetzt also alles recht, und das ist doch auch einmal ziemlich angenehm.

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