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Filmstills aus "Shane"

© Stadtkino Filmverleih

Poor Paddy: das bewegte Leben des Shane MacGowan

„Fairy Tale of New York“ ist in Großbritannien das meistgespielte Weihnachtslied des 21. Jahrhunderts. Über dessen Autor Shane MacGowan kommt nun ein Film in die Kinos. „Shane“ von Julien Temple erzählt vom bewegten Leben des vielleicht berühmtesten irischen Trinkers und Poeten der Popgeschichte - und zugleich erzählt er vom Leidensweg der irischen Diaspora, deren Kampf gegen die Briten und ihr reiches literarisches Erbe.

von Boris Jordan

„Paddies“ wurden die armen Iren im Vereinigten Königreich genannt. Die britische Krone hatte Irland immer als seine erste Kolonie betrachtet und die irische Bevölkerung wie Untermenschen behandelt. Sie waren gut genug, die Häfen und Eisenbahnstrecken des Empire zu bauen, in UK und Übersee, sie wurden versklavt und verprügelt, man ließ sie an der großen Kartoffelhungersnot zugrunde gehen und an ihren Arbeitsstätten verrecken. Eine spezielle Art des Rassismus mussten die Irinnen und Iren noch bis lange in die Nachkriegszeit erdulden. Noch bis in die 70er Jahre des 20. Jahrhunderts konnte man in so manchem englischen Pub ein Schild sehen, auf dem zu lesen stand: „No Irish, no Blacks, no Dogs“.

Shane MacGowan war einer dieser „Paddies“. Aufgewachsen auf einem Hof in Tipperary ohne Strom und Wasser, geht er mit seiner Familie in seinem sechsten Lebensjahr nach London, um sich dort an die Mittelklasse anzupassen. Anpassung ist aber nicht das Spiel, das ein „Paddie“ im Nachkriegsengland gewinnen kann. Trotz eines relativ angesehenen Jobs des Vaters und einer Spießeridylle bleiben die MacGowans immer die „Paddies“, irischer Abschaum. Aber Anpassung ist auch nicht das Spiel, das der aggressive, von Heimweh geplagte Jugendliche Shane Mac Gowan zu gewinnen wusste - er wollte sich immer als Ire fühlen, zudem als Rebell gegen das grausame spießige England, als Katholik, später Sozialist und Anarchist, als Dichter und Sänger am Ende einer großen irischen Tradition, die auch eine Tradition der Aggression und der Selbstzerstörung ist. So wie seine Mutter, die davor in Irland Model und Sängerin war und ihr Leben in der Londoner Wohnsiedlung gehasst hat. Ihre Depression wird mit zu hoch dosiertem Valium behandelt; der ebenfalls depressive, auffällig intelligente, stets widerständig zappelnde Shane bekommt auch seine Dosen.

Dann kam Punk.

Shane MacGowan vor Pogues-Plakaten

© Stadtkino Filmverleih

Dark Streets of London

Mit seinen abstehenden Ohren und legendär schlechten Zähnen wird aus dem dünnen, stets betrunkenen Jungen eines der bekanntesten Punkgesichter Londons, der bizarre Posterboy des Jahres 1977. Als er mit seiner Punk-Freundin beim Pogo eine Flasche auf dem Kopf zerbrochen bekommt, landet das Foto des blutüberströmten Shane im legendären Musikmagazin NME. Zusammen mit anderen Punk-Pionier*innen wie Siouxie Sioux, Adam Ant oder Don Letts ist er Teil der Clique, die den Stil des Vintage Punk bis heute prägt. Im Gefolge der Sex Pistols und der Clash gründet er die recht konventionelle Britpunk-Band Nipple Erectors, aber er hat schon damals etwas Spezielles vor. Inspiriert von der Beliebtheit der Weltmusik-Folklore-Bands der frühen 80er schwebt ihm eine moderne Version des irischen Volksliedes vor: Wenn Folkmusik in der Zeit des Post Punk eine Authentizität zugeschrieben wird, warum nicht die authentische Folklore verwenden, die es vor der Haustüre gibt und die eine längere und reichere Tradition als alle anderen vorweisen kann? Und dazu könnte man doch mit der Energie und Rücksichtslosigkeit des Punk der irischen Musik, wie sie die Furays und die Dubliners exportierten, einen „Tritt in den Hintern“ verpassen und moderne irische Musik schreiben, voller Direktheit, voller trunkenem Spaß, voller Sehnsucht und Traurigkeit, jedoch nicht für Irland, sondern für die irische Diaspora in London, England und der Welt. „Ich konnte es nicht fassen, dass das noch niemand macht, also hab ich es selber gemacht.“

Filmstill aus "Shane"

© Stadtkino Filmverleih

Wildes Auf und Ab

Mit den Pogues wird Shane MacGowan der bekannteste Ire der Welt. Und der bekannteste Trinker. Ihre wild anarchischen Shows machen sie bald zur angesagtesten Liveband Englands und sie erobern mit dem zynischen Weihnachtslied „Fairy Tale of New York“ sogar die Charts. Der Erfolg dieses Weihnachtsliedes, all das Touren und Trinken und all der Speed zerstören Shane, es geht wie wild auf und ab: die Pogues spielen neben Joe Strummer, Dennis Hopper und Grace Jones eine Rolle in einem Punk-Western von Alex Cox, es regnet Fernsehauftritte, Interviews, Aufnahmesessions, eine Tour mit Elvis Costello und 360 exzessive Konzerte innerhalb eines Jahres – all das fordert seinen Tribut: bei einem Japan-Konzert bricht Shane MacGowan auf der Bühne zusammen. Die Pogues schmeißen ihn daraufhin raus, er entdeckt das Heroin, das unbeschwerte Gegrölte und Gesaufe ist vorbei, Shane MacGowan zerbricht vor aller Augen: der Raubbau an seinem Körper wird so auffällig, dass er zum am häufigsten totgesagten Musiker nach Keith Richards und vor Pete Doherty wird.

Die bewegte Geschichte Irlands

Der Film „Shane“ ist jedoch nicht die Geschichte der Pogues, von Shane oder von Punk: es ist eine Geschichte der Irinnen und Iren. Gezeichnet von Heroinentzug, Alkohol, Schlaganfall und einer gebrochenen Hüfte sehen wir den gealterten Shane all die Geschichten erzählen, die die Pogues- Songs inspirierten: von den Dichtern und Trinkern und Kämpfern der Iren und den tragischen, glorios scheiternden Revolten und Episoden ihrer Geschichte, getragen von der Anarchie und Gottergebenheit, die Shane MacGowan zeitlebens in sich vereint hat, interviewt von Sinn Feins Gerry Adams und von Johnny Depp, der den Film mitproduziert hat.

Punk-Chronist Julien Temple umrahmt die tragische Geschichte des kaputten Helden der 80er mit original Footage aus der 77er Punkzeit sowie mit animierten Geschichten und alten Filmen. Das ergibt ein ebenso stimmiges wie gebrochenes Bild zwischen Mitleid und Aufwühlung, Poesie und der Geschichte eines radikalen Lebens im Sinne der irischen Seele.

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