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„Possessor“: Der Body Horror lebt

David Cronenbergs Sohn Brandon schließt mit seinem neuen Film an die Meisterwerke des Papas an. „Possessor“ ist der Anlass für einen FM4 Filmpodcast, der sich dem körperlichen Schrecken widmet.

Von Christian Fuchs

Wenn wir alle die Nerven dazu hätten, wäre jetzt die optimale Zeit, um Body Horror Filme zu schauen. Dass im wahrsten Sinn körperlichste aller Horrorgenres dreht sich nämlich im Grunde um Krankheiten, Verfall, um Menschen, die von Parasiten und Viren befallen sind. Body Horror geht ganz ans Eingemachte, spielt mit der Angst, dass man im Badezimmerspiegel furchtbare Entdeckungen macht. So wie Jeff Goldblum als Wissenschaftler in David Cronenbergs Mutations-Schocker „The Fly“ aus dem Jahr 1986, dem plötzlich die Haut aufbricht und Zähne ausfallen.

Das klingt eklig und ist es oft auch. Die Destruktion und Transformation des Körpers ist aber auch Ausgangspunkt für superkluge Filme von Ausnahme-Regisseuren. Kino-Visionär Cronenberg steht am maßgeblichsten für Body Horror mit klinischer Präzision und existentieller Dimension. Von seinem Debüt „Shivers“ bis zu „Videodrome“, dem erwähnten „The Fly“ oder „eXistenZ“: Bei Cronenberg kollidieren diverse Körperflüssigkeiten und Thrills aus dem Splatterkino mit Grenzbereichen der Philosophie.

Possessor

NEON / Kinostar

„Posessor“

Wenn ein Sohn mit seinem Erstlingswerk so nah dran ist am künstlerischen Schaffen des Regiepapas wie Brandon Cronenberg mit dem Arthouse-Horrorfilm „Antiviral“ (2012), dann stößt ihm Skepis entgegen. Mit seinem zweiten Film „Possessor“ hat sich der Sprössling aber emanzipiert. Oder auch nicht. Thematisch könnte die Story einer Hausfrau (Andrea Riseborough), die mittels Gedankenkontrolle ihre Opfer zu Killern werden lässt, tatsächlich von David Cronenberg stammen. Denn es geht um Identitätsverlust, Technologie, die den Körper vereinnahmt, seelische Krisen und aufplatzende Wunden.

„Possessor“, gefilmt vom Ausnahmekameramann Karim Hussain, geht aber stilistisch andere Wege. Während Cronenberg Senior den physischen Schrecken in strengen Bildkompositionen zeigt, arbeitet der Junior experimenteller und modischer. Zusammen mit der eindringlichen Tonspur verwandelt er „Possessor“ in ein audiovisuelles Gesamtkunstwerk. Wenn das alles jetzt extrem arty klingt: Die beiden Cronenbergs vereint eine Lust an analogen Spezialeffekten heftigster Art. „Possessor“ ist nicht nur einer der intelligentesten Gänsehautfilme, er nimmt härtetechnisch auch keine Gefangenen.

Der FM4 Film Podcast läuft am Montag um Mitternacht auf Radio FM4 und ist auch in der Radiothek verfügbar.

Für uns im FM4 Filmpodcast ist „Possessor“ - derzeit in ausgewählten Kinos zu sehen - jedenfalls ein perfekter Anlass, um über das Phänomen Body Horror zu sprechen. Mit dabei bei der spannenden Plauderei sind zwei besondere Gäste. Die österreichische Horrorautorin, Journalistin und Filmbloggerin Faye Hell trifft auf Markus Keuschnigg, den Direktor des grandiosen Slash-Filmfestivals. Dabei dreht sich die Diskussion nicht nur um die beiden Cronenbergs. Wir schwärmen auch über japanische Körperkino-Attacken oder verbeugen uns vor den Filmen des zu früh verstorbenen Stuart Gordon. Da geht es manchmal grotesk komisch zu, wie in einem verrückten Puppentheater.

Aber auch Gordon, der den Schleim und das Kunstblut deftig spritzen lässt, ist ein Intellektueller mit Botschaften. Für Filmtheoriker*innen wie Linda Williams ist die Konfrontation mit dem Body Horror ein Schritt in Richtung Katharsis und Überwindung der Angst vor Altern und Tod. Wir wünschen gutes Grausen und feiern hier noch ein paar ausgewählte Höhepunkte des Genres.

Lang lebe das neue Fleisch: Faye Hell über „Videodrome“ (1983)

Gäbe es einen streng geheimen Club, in dem sexuellen und moralischen Abgründen exzessiv gehuldigt würde, dann müssten wir an dessen Schwelle wohl „long live the new flesh“ hauchen, um Einlass und gleichermaßen Erleuchtung gewährt zu bekommen. Alternativ können wir uns einem cineastischen Meilenstein hingeben, der unseren Blick auf die Welt fast ebenso verändert, wenn wir es zulassen.

Max Renn, der Betreiber des privaten Fernsehsenders CIVIC TV, gibt den Zuschauer*innen das, wonach sie sich verzehren. Sein reißerisches Programm bietet anonyme und unkomplizierte Triebbefriedigung. Aber genug kann bekanntlich nie genügen und als Max von dem Piratensender VIDEODROME erfährt, der gewaltpornografische Inhalte ausstrahlt, gibt er seiner eigenen Begierde nach und gerät in einen meta-medialen Sog aus Faszination und Transformation.

Videodrome Filmstill

Koch Films

„Videodrome“

Cronenbergs wahrnehmungsformendes Delirium ist heute so schmerzhaft aktuell wie vor beinah vierzig Jahren und hat auch kaum etwas von seiner verstörenden Wirkung eingebüßt. Der Blickwinkel hat sich verändert, aber die Diegese lässt einen nach wie vor erschaudern. Vor Grauen, vor Exaltation. 2021 mutet Cronenbergs Werk phasenweise beinah prophetisch an, damals wie heute verkörpert es eine bildgewaltige Selbstauslöschung, der die Sehnsucht eines individuell grenzenlosen Zukunftsraums innewohnt. Wir werden zerstört, wir werden befreit. Kann es so fatal sein? So einfach?

Der menschlichen Existenz und Anatomie sind ebenso wenig Grenzen gesetzt wie dem Verstand. Was biologisch stirbt, kann technologisch wiederauferstehen. Der mächtige Geist überdauert die schwache Materie und die Wirklichkeit selbst kann nie so überzeugend sein wie die Fiktion. Cronenberg erzählt von Lust und Schmerz, von Tod und Sexualität, die untrennbar miteinander verbunden sind.

„Videodrome“ will verstanden, aber vor allem will der Film erlebt und erlitten werden. Als Rezipient ist man versucht, den Anspruch der Überrationalität geltend zu machen. Man will die hypnotischen Bilder dechiffrieren, doch diese sind über den Umweg der Irritation längst in einen eingedrungen und penetrieren den Verstand. Ist dieser Akt abgeschlossen, hat man sich mit dem Virus David Cronenberg infiziert, und das ist eine Leidenschaft, die man nie wieder loswird.

Unter die Haut: Christian Fuchs über „Trouble Every Day“ (2001)

Die Wege zweier Liebespaare, eines in Paris lebend, das andere aus New York anreisend, überkreuzen sich in der Seine-Metropole. Die französische Frau (Beatrice Dalle) und den amerikanischen Mann (Vincent Gallo) verbindet eine gemeinsame, dunkle Vergangenheit. Und ein unstillbarer Trieb: die Lust nach Blut.

Spitze Eckzähne sucht man in dieser modernen Variation des Vampirthemas ebenso vergeblich wie flatternde Umhänge oder auffällige Effekte (mit Ausnahme gezielter Make Up-Drastik). Dafür zeigt Meisterregisseurin Claire Denis viel spektakulärere Aufnahmen: Lange Shots von Vincent Gallo etwa, wie er bärtig-verwildert durch ein kaltes Paris driftet. Szenen einer gänzlich blutverschmierten Beatrice Dalle, die am Rande einer Autobahn hockt, im Hintergrund ihr unschuldiges Opfer. Sexuelle Ausbrüche schließlich, die in ihrer Explosivität und Ruhe zugleich tief unter die Haut gehen.

Ein Film über das Gefangensein im eigenen Körper, über den Hang, Dinge zu tun, die schlecht und verwerflich und böse und zugleich unvermeidlich sind. Ein wortkarges existentielles Drama, in der Verpackung eines irritierenden Zeitlupen-Thrillers. Bei Vorführungen von „Trouble Every Day“ kam es seinerzeit schon mal zu ungewöhnlichen Reaktionen. „Ist ein Arzt im Saal“, fragte ein entgeisterter Mann in den stockdunklen Saal des Wiener Votivkinos hinein. „Da braucht jemand Hilfe!“

Tatsächlich packt Claire Denis einige Bilder in ihre moderne Variation des Vampirthemas, die sowohl dem angesprochenen Arthouse-Auditorium als auch dem Multiplex-Besucher auf den Magen schlagen könnten. Sexualität und Tod, in dunkelroter Umarmung. Überwiegend dominiert aber eine unglaubliche Melancholie diesen Film, wie man sie in den meisten Werken der Autorenfilmerin Denis findet. Die langsamen Mollakkorde der Tindersticks in Verbindung mit den Gesichtern von Gallo und Dalle, dazu noch Paris im Nebel, das alleine ist ein Wunder für sich.

Trouble Every Day Filmstill

Tartan Video

„Trouble Every Day“

Der Trieb siegt über die Norm: Faye Hell über „Raw“ (2016)

Der Paradigmenwechsel ist vollzogen. In Cannes gewinnt zum zweiten Mal seit Bestehen des Festivals eine Regisseurin im Alleingang die Goldene Palme. Julia Ducournau überzeugt mit ihrem Genrebeitrag „Titane“ und für die österreichischen (nicht nur) Horrorfans wird das sehnsüchtige Warten auf den Film der Begierde endgültig zur Höllenqual.

Diese Auszeichnung kann man, auch ohne den Film zu kennen, gar nicht intensiv genug feiern, denn bereits in „Raw“ offenbart uns Ducournau einen ungezähmt weiblichen, aber vor allem auch kompromisslosen Blick auf ein wahrlich unbequemes Filmschaffen jenseits von inszenatorischen Samthandschuhen und oberflächlicher Empfindsamkeit.

Die sechzehnjährige Justine beginnt an genau jener Universität ihr Veterinärstudium, die auch von ihrer ältere Schwester Alexia besucht wird. Bei einem demütigenden Aufnahmeritual wird Justine, die überzeugte Vegetarierin ist, dazu genötigt, eine rohe Kaninchenniere zu essen. Kurz darauf weist sie die ersten Symptome einer Erkrankung auf, die offenkundig so viel mehr ist als die rasch diagnostizierte Lebensmittelvergiftung.

Was für ein Befreiungsschlag! Und das nicht nur mitten in die Magengrube – denn „Raw“ hat einige durchaus schwer verdauliche, explizite Szenen aufzuwarten – sondern auch auf Rezeptionsebene. „Raw“ befreit die Protagonistin nicht bloß aus der Opferrolle oder macht sie zum sexuell enthaltsamen, aber kampfbereiten Final Girl. Justine wird selbst zur Aggressorin. Sie krallt sich ihre Auserkorenen, an deren Körpern sie hemmungslos ihre Fleischeslust stillt. Und es ist genau diese Hemmungslosigkeit, die das starre gesellschaftliche Korsett, das vor allem jungen Frauen nach wie vor aufgezwungen wird, nicht nur aufsprengt, sondern in tausend Stücke zerfetzt. Eine Zerstörung, die illustriert, wie überholt und gleichermaßen verletzend diese Konventionen sind.

Raw Filmstill

Focus World

„Raw“

Ducournaus drastische Darstellung von Gewalt und Sexualität lässt einen würgen, aber was man schlussendlich auskotzt ist jenes aufoktroyierte „Du kannst nicht und du darfst nicht“. Der Trieb siegt über die Norm, er siegt über das Tabu und die Disposition dieses Triebes ist endlich nicht mehr männlich.

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