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The Summer of Emo continues: Willow und ihr neues Album „lately I feel EVERYTHING“

Mit ihrem neuen Album „lately I feel EVERYTHING“ und Gästen wie Avril Lavigne, Travis Barker oder Cherry Glazerr liefert Willow Smith das finale Puzzlestück zum Pop-Punk-Revival.

Von Christoph Sepin

Am Anfang war eine groß inszenierte Geste: Zum Release ihrer neuen Platte „lately I fell EVERYTHING“ spielte Willow Smith ein Livekonzert per Online-Stream - und ließ sich ausgerechnet während der Performance von „Whip My Hair“, ihres ehemals größten Hits als Kinderstar, ihre Haare abrasieren. Eine Geste vielleicht als Distanzierung von der öffentlichen Wahrnehmung als Tochter von Superstars Will und Jada Pinkett Smith. Oder als Wegbewegen von der Vergangenheit - ganz sicher aber ein Neuanfang. „Ich rasiere meine Haare an monumentalen Zeitpunkten in meinem Leben, wenn Dinge sich verändern. Und das ist definitiv so ein Moment“, sagt Willow. „lately I feel EVERYTHING“ ist Neuerfindung und Rekonzeptionierung, Selbstfindung und Konfrontation - ein Genre, das sich für den Ausdruck solch großer Gefühle besonders gut eignet, nennt sich Punk-Rock.

Das neue Album von Willow ist eine Platte als Tagebuch der persönlichen Veränderung der Musikerin, aber auch ein Symbol für die Transformation der Popkultur: Dass Gitarrenmusik in verschiedensten Facetten auch im Mainstreampop wieder auftaucht, lässt sich schon seit Monaten beobachten, dass ehemals stark maskulin besetzte Genres wie Nu Metal oder Punk durch neue Entwürfe von Musiker*innen wie Poppy, Rina Sawayama, Ashnikko oder Olivia Rodrigo neue Qualitätslevel erreichen ebenso.

Wie stark der Einfluss der Protagonist*innen der späten 90er- und frühen Nuller-Jahre in diesem Revival ist, wird auch immer deutlicher: Sprach Ashnikko im Rahmen ihres „Sk8ter Boi“-Covers „L8ter Boi“ für ihr neues Mixtape im Interview noch von „Queen Avril“ holt sich Willow für den stärksten Moment ihrer neuen Platte, das Lied „GROW“, Avril Lavigne kurzerhand als Featuregast und fast schon mütterliche Figur des Pop-Punk dazu.

Schließlich lässt sich in gleich mehreren Songtiteln auf „lately I feel EVERYTHING“ der Name Travis Barker finden - und sein als Mitglied von Blink-182 unverkennbares Schlagzeugspielen auch hören. Willows Album ist das finale Puzzlestück zur kompletten Rückkehr zu Grunge, Punk und verzerrten Gitarren, zu selbstgefärbten Haaren und selbstbemalten, zerschnittenen T-Shirts. Und all das, ohne jeglichen Zynismus, fühlt und hört sich gut an.

Soviel zur Aufgabe des Albums als Ausdruck gegenwärtiger Popkulturveränderungen - mindestens genauso wichtig ist es aber natürlich als Kapitel im künstlerischen Prozess von Willow: Selbstentdeckung und Selbstverwirklichungen sind die beiden wichtigen Säulen der Platte. Der Blick nach innen auf sich selbst und der Versuch, die dort gefundenen Emotionen als Lieder zu vertonen. Willow gehört zur Generation Künstler*innen, die in der Öffentlichkeit aufgewachsen sind, die Konfrontation mit eben dieser spielt natürlich auf „lately I feel EVERYTHING“ eine Rolle. „Es hat Momente gegeben, als ich gesehen hab, was auf der Welt passiert ist und komplett deprimiert und wütend war“, sagt sie über das letzte Jahr. „Ich hab mir gedacht: das ergibt alles keinen Sinn“.

Da ist der, nach Olivia Rodrigos „brutal“, wohl beste Opener einer Popplatte im Jahr 2021, das energievolle, anteibende „t r a n s p a r e n t s o u l“. Hier beginnt Suche und Hinterfragen der Realität: „I don’t fuckin know if it’s a lie or it’s a fact“, singt Willow und spricht von falschen Freund*innen, von Verräter*innen und rechnet ab: „all your little fake friends will sell your secrets for some cash“. Ob ihr, doch extrem ungewöhnliches Leben Paradies oder Falle ist, fragt sie sich („I don’t fuckin know it’s paradise or it’s a trap“) und wundert sich über ihre Rolle als Hollywood-Royalty („they’re treating me like royalty but is it kissin ass“). Introspektiv beginnt dieses Album, so introspektiv soll es dann aber schlussendlich doch nicht nur bleiben.

Elf Lieder sind auf „lately I feel EVERYTHING“ zu finden, in guter, alter Punkrocktradition dauern nur zwei davon über drei Minuten. Musik auch für Menschen mit kurzer Aufmerksamkeitsspanne also, wenn zum Beispiel der zweite Song mit dem schönen Titel „Fuck You“ gerade einmal 36 Sekunden dauert. „Fuck you for fucking up my heart, don’t you ever get involved with me again“, schreit Willow ins Mikrofon und fasst somit die Essenz von vielen anderen, viel längeren Popsongs in einem Satz zusammen. Das passiert alles mit ganz wunderbarer Nonchalance einerseits, mit musikalischer Leichtfüßigkeit andererseits, die durch das gesamte Album tragen soll.

Willows Selbstfindung ist abgeklärt: Sie weiß, dass sie wachsen muss, dass sie sich erst am Anfang befindet, bleibt neugierig und fragend: „I need you to tell me when I’m being naïve, beause I know I can be“ singt sie im Chorus von „naïve“ und erzählt von Freund*innen, die bei Protesten in der Bronx von Gummigeschossen getroffen wurden, „we know this can’t last forever“ ist dann die wissende Songzeile über ein sich abzeichnendes Beziehungsende in „4ever“. Simpel und straightforward dabei die Akkorde, nachdenklich und klug die Lyrics dazu.

Nirgendwo wird das so deutlich, wie im großen Hit der Platte, der Zusammenarbeit mit Avril Lavigne namens „GROW“. Der Titel verrät es, hier geht es um Wachstum und Erwachsenwerden - die Stimmen von Willow und Avril richten sich aber auch nach außen, als Ratschläge in Richtung der Hörer*innen: „I hope you know you’re not alone, being confused ain’t right or wrong, you’ll find that you’re your own best friend and no, that ain’t a fucking metaphor“ ist eine sehr schöne Zeile auf einer Platte, die sich sowieso nicht vielen Metaphern bedient.

„lately I feel EVERYTHING“ ist ein Album das versteckt, wie raffiniert das alles darauf eigentlich durchdacht ist. Das mit seinen kurzweiligen Pop-Punk-Entwürfen möglichst zugänglich gehalten ist, dann aber doch lange im Ohr bleibt. Dieses Album ist kurz, soll aber nicht nur einmal gehört werden, sondern immer und immer wieder. Clever im Juli released als weiterer Ankerpunkt dieses fabelhaften Summer of Emo, der großen Emotionen und der Rückkehr der Gitarrenmusik.

Wo wir also sind auf der Karte der Popkultur, das zeigen uns Willow und ihre illustre Partie bestehend aus Avril Lavigne, Travis Barker, Cherry Glazerr oder Tierra Whack. Wo es hingeht nicht, das ist aber auch nicht die Aufgabe von „lately I feel EVERYTHING“. Ein wichtiger Blick nach innen, eine Platte mit der man sich identifizieren kann, auch wenn die eigenen Lebensumstände Lichtjahre von denen einer Willow Smith entfernt sind. Und wenn man nichts Größeres will einfach auch ein spaßiges Stück Punkrock mit lauten Gitarren und schnellen Drumrhythmen. „Alright, that’s all we have“, lacht Willow irgendwann auf der Platte ins Mikrofon. Und das ist auch genug.

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