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Frozen Yoghurt

Pixabay

Melissa Broders zweiter Roman „Muttermilch“

Eine fat-shamende Mutter, eine Essstörung, Frozen Yoghurt und ganz viel lesbischer Sex: im Leben der „Muttermilch“-Romanheldin Rachel haben lange Zeit Hunger und Verzicht dominiert. Bis sie auf die orthodoxe Jüdin Miriam trifft und eine unterhaltsam-schonungslose Identitätssuche ganz nach dem Lustprinzip beginnt.

von Michaela Pichler

Rachel ist ausgehungert – von einer schwierigen Beziehung zu ihrer Mutter und von ihrem Diätzwang. Die Protagonistin im Roman „Muttermilch“ ist Mitte 20, lebt in Los Angeles und arbeitet in einer Hollywood-Talentagentur. In ihrem Büro ist Essen in der Mittagspause eher ungern gesehen, alle Menschen in ihrem Umfeld sind dünn. Jede freie Minute verbringt Rachel mit Kalorienzählen und Sport, eingetrichtert wurde ihr das ungesunde Essverhalten von ihrer Mama.

„War es wahre Freiheit? Unwahrscheinlich. Aber dank meiner Rituale blieb ich dünn, und wenn Glück nur eines bedeutet, nämlich Dünnsein, dann könnte man sagen, ich war in gewisser Weise glücklich.“

Erst im Laufe des Romans merkt Rachel, in welchen Momenten sie sich doch wahrhaftig glücklich fühlen kann. Ausgangspunkt für die Wandlung der Ich-Erzählerin ist ein Kontaktabbruch mit der Mutter. 90 Tage keine Anrufe, keine Nachrichten oder sonstige Kommunikation, empfiehlt ihre Therapeutin. Rachel hält sich an die neue Diät und lernt am nächsten Tag Miriam kennen. Diese arbeitet als Frozen-Yoghurt-Verkäuferin in Rachels Lieblingsladen, ist jüdisch-orthodox und weckt in Rachel den jahrelang verdrängten kulinarischen wie sexuellen Hunger.

Melissa Broder "Muttermilch"

Claassen Verlag

„Muttermilch“ ist der zweite Roman aus Melissa Broders Feder, wurde von Karen Gerwig aus dem Amerikanischen übersetzt und ist im Claassen-Verlag erschienen. Ihr Romandebüt „Fische“ erschien 2018.

Fleischeslust

Denn Rachel ist eigentlich bisexuell. Lange Zeit konnte sie allerdings keine Nähe zu anderen Personen aufbauen und keine körperliche Beziehung zulassen. Auch ihr Coming-Out gegenüber ihrer Mom ist damals in ihrer Studienzeit alles andere als reibungslos abgelaufen. Statt Verständnis und Akzeptanz regnete es Vorwürfe und Bi-Feindlichkeit.

Sie begann zu schluchzen. Sie sagte, ich täte das, um sie zu ärgern. Sie erklärte mir, ich sei verwirrt und sie hätte mich nie Schauspiel als Hauptfach wählen lassen dürfen. Sie sagte, mein Großvater habe nicht sein ganzes Leben lang gearbeitet, damit seine Enkelin eine beschissene Lesbe sei. „Bisexuell“, sagte ich und legte auf.

Mit Miriam eröffnet sich für Rachel eine neue Welt: Sie essen sich gemeinsam durch die ganze Speisekarte im China-Restaurant und verlieben sich zwischen Sesam-Hühnchen und Egg-Roll. Ihre täglichen Sex-Fantasien, die Rachel normalerweise mit Arbeitskolleginnen oder im Fitnessstudio nur als Kopfkino zulässt, lebt sie nun mit Miriam aus, deren Körper so ganz anders ist als ihr eigener. Weich, rund, faltig – und vor allen Dingen: anziehend. Ihre Zuneigung müssen die beiden aber vor Miriams streng gläubiger Familie geheim halten. Rachel wird zum Sabbath eingeladen; in der jüdisch-orthodoxen Familie fühlt sie sich geborgen.

Ich war wohl kaum so jüdisch wie sie. Und doch behandelten sie mich so, als gehörte ich dazu. Ich fand es wunderbar, dass es dabei nicht um andere Facetten meiner Identität ging: womit ich mein Geld verdiente, meine Interessen, meine Erfolge. Ich musste nichts sein oder tun, als einfach nur zu existieren, damit sie mich mochten. Es war, als brächten sie meiner nackten Seele, einer gewissen inneren Essenz, bedingungslose Liebe entgegen. Aber gleichzeitig hatte diese Liebe Bedingungen. Sie war an mein Jüdischsein geknüpft.

Auch in Miriams scheinbar intakter Familie gibt es Brüche. Wenn zum Beispiel das Thema Israel und Palästina bei Tisch aufkommt, wenn Rachel als weiblicher Gast vergisst, ihre nackten Arme mit Stoff zu bedecken oder wenn die geheime Beziehung zwischen den neuen Freundinnen droht, aufzufliegen.

Froyo-Toppings und Selbstbestimmung

Die US-Amerikanerin Melissa Broder ist neben ihrer Karriere als Autorin und Kolumnistin auch drüben auf Twitter bekannt: Eine Million Follower unterhält Broder mit ihrem Account „So Sad Today“, auf dem sie ganz offen unter anderem über ihre Angststörung twittert. Der trockene Humor findet sich nun auch in ihrem zweiten Roman „Muttermilch“ (im Original „Milk Fed“) wieder. Eine Essstörung, toxische Beziehungen, politische Konflikte und Queerfeindlichkeit - zwischen all den komplexen Themen, die Melissa Broder einarbeitet, ist „Muttermilch“ vor allem eine unterhaltsame sowie schonungslose Selbstfindungsreise. Auf dem Weg zur Emanzipation gibt Rachel ihrer Lust nach und lernt dabei gleich mehrere Dinge – nicht nur, welches Topping am besten zu ihrer Lieblings-Froyo-Sorte passt, sondern auch, dass sie auf sich selbst am besten aufpassen kann.

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