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Blauwal im Meer

Gabriel Dizzi / Unsplash

Geschichten übers Geschichtenerzählen

Leslie Jamison erzählt über sich und über andere, und dabei reflektiert sie darüber, warum wir Geschichten brauchen und welche Verantwortung damit einher geht, die Geschichten anderer Menschen zu erzählen.

Von Conny Lee

Buchcover "Es Muss Schreien, Es Muss Brennen"

Hanser Verlag

„Es muss schreien - es muss brennen“ von Leslie Jamison, erschienen bei Hanser Berlin, übersetzt von Sophie Zeitz

Im Essay „52 Blue“ schreibt Leslie Jamison über einen Wal, dessen Gesang sich im Frequenzbereich 52 Hertz bewegt. Er ist damit der einzige seiner Art; die anderen Wale können seinen Gesang nicht wahrnehmen und reagieren nicht darauf. Deswegen schwimmt er alleine durch den Ozean. Die Autorin hat sich mit dem Tontechniker getroffen, der den außergewöhnlichen Walgesang entdeckt hat. Er hat die Bewegungen des Wals mittels Hydrophonen jahrelang aufgenommen und dokumentiert. Jamison hat auch mit Leuten aus der Online-Community gesprochen, die sich diesem Wal widmet: Menschen, die sich mit ihm identifizieren, die aus seiner Geschichte Trost oder Hoffnung schöpfen. Jamison schreibt über die Motive dieser Leute, erzählt von ihren Hintergründen. Beispielsweise von Leonora, die nach schwerer Krankheit wieder neu lernen muss, wie man spricht.

"Inzwischen kursierte die Geschichte des Wals seit einigen Jahren im Internet. Doch sie berührte Leonora mit besonderer Kraft: „Er sprach eine Sprache, die niemand sonst sprach,“ sagte sie. „Und ich saß hier und war sprachlos. Ich hatte keine Sprache, um zu beschreiben, was mir passiert war... Ich war wie er. Ich hatte nichts. Niemand kommunizierte mit mir. Niemand hörte mich. Niemand hörte ihn.“

Erinnerungen an frühere Leben

Ein anderes Essay trägt den Titel „Wir erzählen uns Geschichten, um wieder zu leben“. Darin geht es um Kinder, die davon überzeugt sind, sich an frühere Leben erinnern zu können. Leslie Jamison erzählt die Geschichte einiger dieser Kinder und ihrer Familien, die sie besucht hat. Die Autorin bringt dabei immer auch ihre persönliche Perspektive mit ein.

„Ich hatte nicht vor zu beweisen, dass Reinkarnation existierte, vielmehr interessierte mich, was den Glauben daran so attraktiv macht. Wenn wir uns Geschichten erzählen, um zu leben, was geben uns diese Geschichten, was uns das Weiterleben ermöglicht? (...) Es ist die Erkenntnis, dass wir von Mächten geformt werden, die wir weder sehen noch verstehen können.“

author Leslie Jamison

Beowulf Sheehan

Mehr von Leslie Jamison: ihr autobiographisch inspirierter Roman „Der Gin Trailer“

Leslie Jamisons Essays haben alle gemein, dass sie nicht nur etwas erzählen, sondern gleichzeitig auf einer Metaebene über das Erzählen an sich nachdenken. Sie lässt uns an ihren Vorbehalten den Gesprächspartner*innen gegenüber teilhaben, verrät uns ihre Zweifel oder erklärt, wie ihre frühere Alkoholsucht ihre Perspektive auf die jeweilige Situation prägt. Leslie Jamison spricht über die Bedeutung von Geschichten, die Wichtigkeit, sich das Leben in Geschichten zu denken.

Familiendokumentation in Bildern

Besonders berührend ist das Essay „Maximale Belichtung“ über die Fotografin Annie Appel, die 25 Jahre lang immer wieder zu einer Familie in Mexiko zurückkehrt, um sie zu fotografieren. Sie dokumentiert den Alltag, das Zusammenleben und das Heranwachsen der nächsten Generation. Dabei kämpft die Fotografin immer wieder mit der Frage, wie sehr sie sich in das Leben der Personen, die sie begleitet, einbringen darf oder nicht.

„(...) wenn man sich in ein dokumentarisches Projekt hineinsteigert, kann es unmöglich werden, wieder aufzuhören. Kein Ende scheint ehrlich oder vertretbar zu sein. Was bedeutet es, aus dem Leben anderer Kunst zu machen? Wie unterscheidet sich die Zeugin von der Ausbeuterin, und wann hat die Zeugin alles gesehen? Gibt es diesen Zeitpunkt überhaupt?“

Leslie Jamison erzählt von den Geschichten und Erlebnissen anderer Menschen, aber auch von ganz persönlichen Erfahrungen - von Liebschaften in Las Vegas, vom Begräbnis des Großvaters oder von der Geburt ihrer Tochter. Alles immer sehr reflektiert, mit einem kritischen und doch liebevollen Gespür für Menschliches. Die 14 Essays sind unterteilt in 3 Abschnitte: Sehnen, Schauen und Bleiben. Diese Überbegriffe schaffen einen größeren dramaturgischen Bogen, der die einzelnen Kapitel zu einem Gesamtbild zusammenfügt: die Gedanken einer Autorin über die Bedeutung ihrer Arbeit.

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