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Angela Lehners Roman „2001“ erzählt vom Aufwachsen im Kaff & vielen schlimmen Worten

Im neuen Roman von Angela Lehner ist das Jahr 2001 angebrochen: Julia und ihre Teenie-Freund*innen wachsen im ländlichen Tal auf, mit Hip Hop, viel zu langsamen Internet und mit ihren eigenen Rassismen. Im Interview spricht die Autorin Angela Lehner über das Jahr 2001 als große Zäsur und über die Macht und den Horror unserer problematischen Sprache.

Von Michaela Pichler

„Unsere Stadt heißt Tal und das ist alles, was man wissen muss.“

Mit diesem Satz beginnt der Roman „2001“ von Angela Lehner. Tal ist eine kleine, fiktive Ortschaft in Österreich. Zwischen Bergen eingekesselt, lockt der Ort hauptsächlich Touris an, die im Winter ihr Geld auf den Pisten ausgeben und im Dorf durch den Schneematsch stapfen. Im Sommer kleben sie dann an der Scheibe der einzigen Eisdiele - ein wahres Urlaubsparadies. Für Julia Hofer und ihre Freund*innen ist Tal einfach nur ein Kaff. Die 15-jährige Ich-Erzählerin wächst dort mit ihrem Bruder auf, Eltern kommen im Roman keine vor. Julia ist Meisterin im Schule-Schwänzen, statt Mathe schaut sie sich lieber im TV die Viva-Charts an.

Gerade hat das neue Jahrtausend angefangen. Das Jahr 2001 hat Autorin Angela Lehner bewusst als Umbruchsjahr gewählt, wie sie im Interview erzählt: „Für unsere Generation war 2001 einfach das, was für die Älteren die Mondlandung war oder Tschernobyl. Das war eine Zeitenwende, ab der sich so vieles geändert hat. Dabei stellt sich der Roman die Frage, wer waren wir? Wer waren wir, bevor diese ganzen Zäsuren passiert sind? Vor dieser technologischen Wende, vor einer politischen und einer wirtschaftlichen? Und in welcher Form waren wir als Gesellschaft noch unbedarfter?“ Angela Lehner hat die 2000er-Jahre ebenfalls als Teenager miterlebt. Vor zwei Jahren ist ihr erster Roman erschienen - „Vater Unser“ - der zwischen Kärnten und der Baumgartner Höhe in Wien spielt. Dafür wurde Lehner unter anderem mit dem Österreichischen Buchpreis ausgezeichnet. Die Autorin ist 1987 in Klagenfurt geboren, aufgewachsen ist sie aber in Lienz, das auch beim Schreiben oft als Referenz in Angela Lehners Fantasie herhalten musste. Tal ist allerdings eine hybride Fiktion, ein Gemisch aus Kärnten, Osttirol und Salzburg, mit Perchten, Goldhauben und anderen seltsamen Brauchtümern.

Der Sound der 2000er

Die Geschichte beginnt im Jänner 2001 und endet mit 9/11. Auch vor dem Terror in New York ist die Welt keine ruhige - George W. Bush ist der neu gewählte US-Präsident, in Österreich wird Jörg Haiders rechte Politik immer lauter, in Kärnten kommt der Ortstafelkonflikt nicht zur Ruhe, Slobodan Milošević wird an das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag ausgeliefert und im September werden fast 3000 Menschen beim Terroranschlag auf die Twin Towers in New York City ermordet.

Zwischen all der Weltpolitik ist Angela Lehners zweites Buch außerdem aufgeladen mit einer Fülle an popkulturellen Anspielungen an die 2000er Jahre: Die Protagonistin hat nie Handy-Guthaben, die Etnies-Schuhe sind ausgelatscht, das Internetmodem kracht und blockiert das Festnetz, Musik wird über den Discman gepumpt. Und da ist sich Julias Freundeskreis einig: Hip Hop geht über alles. Julia kann Eminems „The Real Slim Shady“ und „Superstar“ von Cypress Hill im Schlaf, genauso großer Fan ist sie von deutschsprachigen Rappern wie Texta, Schönheitsfehler, Absolute Beginner und CO KG. Wenn Julia mal groß ist, will sie selbst auf der Bühne stehen und als Rapper (sic!) vom harten Leben erzählen.

„Ein Homo, ein Wacher, eine Schwuchtel!“

Neben der sehr österreichischen Coming-of-Age-Geschichte geht es in „2001“ vor allem um Sprache – und zwar um eine, die aus heutiger Sicht sehr problematisch ist. Vor rechten Skinheads müssen sich Julia und ihr Freundeskreis zwar immer in Acht nehmen, innerhalb der Gang sprechen sie sich aber mit „Mongo“, „Tschusch“ oder „Homo“ an. Bis dem Freund Bene schließlich der Kragen platzt.

„Ich bin aber einer!“, ruft er. „Ein Homo. Ein Wacher. Eine Schwuchtel. Oder welche Wörter ihr Arschlöcher sonst noch so gern verwendet. Ihr merkt das ja gar nicht“, presst er heraus, „wie ihr euch mit der Sprache gegenseitig kaputtmacht. Was ihr alles anrichtet, wenn ihr den Mund aufmacht.“

Lange hat Angela Lehner im Schreibprozess mit sich gehadert, ob sie diese diskriminierende Sprache auch wirklich genau so verwenden sollte. Immerhin wird sogar das N-Wort an zwei Stellen ausgeschrieben. Damit geht die Autorin das Risiko ein, Leser*innen zu verletzen, ein kollektives Trauma Schwarzer Personen und People of Color zu triggern. „Am Ende habe ich mich aber dazu entschieden, zu zeigen, wie es damals wirklich war. Ich wünsche mir, dass die Leute es lesen und sich gruseln! Und sich daran erinnern, wie krass unsere Sprache im Alltäglichen war, wenn man nur 20 Jahre zurückschaut.“ Lehner unterscheidet dabei stringent die Kunst vom Diskurs. Mit Kunst, die sich an sprachlicher Diskriminierung aufgeilt, kann die Schriftstellerin nichts anfangen. Es geht ihr vielmehr ums Thematisieren und Aufarbeiten. Ob das nicht auch möglich gewesen wäre, ohne das N-Wort auszuschreiben? „Das muss jede*r Künstler*in für sich entscheiden. Und ich weiß von mir selbst, dass ich im Privaten einen anderen Sprachgebrauch verwende, als wenn ich 15-Jährige aus den Nullern sprechen lasse.“

Angela Lehner

Laurin Gutwin

Schock und Aufarbeitung

Diskriminierende Sprache zum Gruseln und risikobereite Realitätsabbildung - der Horror-„Effekt“ schockiert und soll Leser*innen auch vor Augen führen, was wir noch alles zu verlernen haben. Das geschieht in „2001“ anhand der Protagonistin Julia, die sich selbst, ihre ausschließlich männlichen Identifikationsfiguren im Hip Hop und ihre Wortwahl reflektieren muss. Aufarbeitung am Beispiel der Romanfiguren quasi. Damit ist Angela Lehner auf jeden Fall ein zweiter Roman gelungen, der auch nach der letzten Seite (die es noch einmal in sich hat) noch lange nachhallt.

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