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Ein Bruder umarmt seine Schwester und deren Bräutigam, sie lächeln. Szene aus "New Order" von Michel Franco.

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Der preisgekrönte Schocker „New Order“ überzeugt nicht alle

Michel Francos neuer Spielfilm „New Order - die neue Weltordnung“ ist ein Schauerkabinett menschlicher Abgründe. Die Jury der 77. Filmfestspiele von Venedig war von dem gnadenlos durchexerzierten Werk beeindruckt, andere toben in Online-Foren.

Von Maria Motter

Der mexikanische Regisseur Michel Franco verschwendet keine Filmminute, um in seinem sechsten Spielfilm „Nuevo orden“, wie er im Original heißt, von Geiz, Gier und Macht zu erzählen und das Kinopublikum mit diesem Tempo und der Verbindlichkeit der ersten Szenen regelrecht in Geiselhaft zu nehmen.

Unmut eskaliert in den Straßen von Mexiko-Stadt in Gewalt und in den Spitälern herrscht Chaos. Doch hinter den Mauern des Anwesens einer reichen Familie will eine Tochter ihre Hochzeitsparty feiern, als ein unerwarteter Gast in der Einfahrt steht. Dem Mann ist das Elend ins Gesicht geschrieben und er spricht vor, weil er Geld braucht für die Notoperation seiner Frau. Nur leihen will der ehemalige Bedienstete das Geld, er zahle alles zurück.

„New Order - Die neue Weltordnung“ kommt am 13. August 2021 in österreichische Kinos.

Während ein Familienmitglied nach dem anderen zögert, sich ziert, ja bemessen will, wie viel so einem denn zustünde, wird es ausgerechnet die zuerst naiv anmutende, zukünftige Braut sein (beeindruckend: Naian González Norvind), die dem Mann helfen will und sich einen Chauffeur und ein Auto schnappt. Als Nächstes springen Bewaffnete über die Mauer, mitten in die Hochzeitsgesellschaft im Garten. Knapp eineinhalb Stunden wird hier die Hoch-Zeit der Barbaren ausgeleuchtet. „New Order“ ist niederschmetternd intensiv und geradewegs eine Zumutung.

Der Bruder der Braut versucht zu beruhigen, die Partygesellschaft ist geschockt. Filmszene aus "New Order".

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Acht Hauptfiguren und 3.000 Statist*innen spielen in „New Order“, Michael Francos sechstem Spielfilm, mit. Die Rollen des Militärs haben ehemalige Militärangehörige.

Die Ungerechtigkeit der Welt

„Ich wollte zeigen, dass Gewalt oft ohne große Ankündigung ausbricht. Es gibt vielleicht Anzeichen, dass etwas geschehen wird, und man fragt sich, wann es explodiert“, sagt Michel Franco im FM4 Interview auf die Frage, weshalb er auf dieses atemberaubende Erzähltempo gesetzt hat. Erst kürzlich habe er sich mit Chilen*innen über die jüngsten Proteste unterhalten, sie hätten sie nicht kommen sehen. Das rasante Tempo habe er auch gewählt, um zu zeigen, wie schnell aus einem Funken ein Flächenbrand werde, und auf dass der Film einschlüge wie eine Bombe. Bei den 77. Filmfestspielen von Venedig gewann er dafür einen Silbernen Löwen. Aber Kinobesucher*innen regen sich in Online-Foren sehr über den Film auf und sind entsetzt über die Brutalität der Geschichte.

„Ich weiß, dass jede*r weiß, wie gespalten die Welt ist, und dass soziale Missstände alle betreffen. Darum braucht es keine lange Vorgeschichte. Jeder kann sich vorstellen, dass die Dinge explodieren, weil die Verhältnisse derart unfair sind – nahezu überall“, sagt Michel Franco.

Ein Mexikaner zielt mit Waffe, um ihn andere Aufständische und geschockte Reiche in einem Garten. Szene aus "New Order" von Michel Franco.

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„Seelenfrieden kannst du nicht kaufen“, sagt der Drehbuchautor und Regisseur Michel Franco, der auf den großen europäischen Filmfestivals schon mehrfach ausgezeichnet wurde.

Grelles Abbild der Wirklichkeit vieler Menschen

Der Thriller „New Order“ wird als Dystopie angekündigt, ist aber sehr nah an der Wirklichkeit in lateinamerikanischen Ländern, räumt Regisseur und Drehbuchautor Michel Franco ein.

Er hat Straßenunruhen, Vergewaltigungen und Hinrichtungen inszeniert. 3.000 Statist*innen wirkten an „New Order“ mit. Es sei zwar fordernd gewesen, aber was die dargestellte Gewalt angehe, habe er sich nichts ausgedacht.

„Es geht nur darum, die Wahrheit zu sagen. Und am Set war es nicht allzu schwer, weil die Schauspieler*innen Profis sind. Es ist wichtig, eine vertrauensvolle Arbeitsatmosphäre zu haben, in der die Schauspieler*innen diese gewalttätigen Szenen auch spielen mögen – denn das tun sie, weil sie heftige Gefühle mögen, selbst die düstersten Dinge.“ Alle Rollen des Militärs sind mit ehemaligen Militärangehörigen besetzt. Das hat Franco die Arbeit erleichtert. Aber das zu wissen, mache den Film noch beängstigender, vermutet der Regisseur.

Als Europäer*in hält man die Aufständischen im Film vielleicht erst für Anarchist*innen oder Aktivist*innen, auch, weil sie das Leitungswasser grün färben und grüne Farbbeutel gegen Autowindschutzscheiben werfen - die Farben der mexikanischen Flagge sind im Film ständig präsent. Die Gründe für die Auseinandersetzungen werden im Film nicht eigens ausgeführt. Es gibt umfangreiche Ausgangssperren und das Militär kontrolliert die Straßenzüge um den Familiensitz.

„Lateinamerika, Mexiko ist sehr korrupt. Das ist der Hauptgrund, weshalb die gesellschaftliche Ungleichheit nicht angegangen wird. Das sind unsere zwei größten Probleme, dazu kommen die Narcs, die Narcotic Wars“, Michel Franco. Armen bliebe oft keine andere Möglichkeit, als für ein Drogenkartell zu arbeiten. Gleichzeitig werden hundert Menschen am Tag ermordet. „Man könnte fast sagen, wir befinden uns in einer Art Krieg und zugleich ist Mexiko auf Platz 15 der größten Volkswirtschaften. Es gibt also viele verschiedene Mexikos und das ist ein Problem: Sie sind radikal verschieden und das eine Mexiko schaut nicht nach dem anderen, obwohl wir so nah beisammen leben. So zu tun, als sehe man das nicht, wird uns zu einem Szenario führen wie jenem in ‚New Order‘.“

Er habe einige politikwissenschaftliche Bücher als Vorbereitung gelesen und 2014 mit der Arbeit begonnen, aber eigentlich genüge ihm sein eigenes Erleben. Franco ist 41 Jahre alt und habe die Armut im Lauf seines Lebens wachsen sehen, das werde nicht groß beachtet, als sei das nicht weiter schlimm.

Eine blonde junge Frau sitzt im Auto am Fahrersitz und schaut sich geschockt um - die Windschutzschreibe ist außen von Farbbeutel getroffen - Filmszene aus "New Order".

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Die Farben der mexikanischen Flagge ziehen sich durch den Film.

„New Order“ ist brachial und gnadenlos erzählt

Die Familie im Film hat ihr Zuhause zwar abgeschirmt von der Außenwelt, doch vielleicht ist der Feind längst im eigenen Haus. „Wir sollten uns gegenseitig nicht als Feinde sehen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen in Mexiko, und nicht nur hier, egoistisch sind und nur an ihre eigene Familie denken. In Lateinamerika geht das so weit, dass Leute diese Mauern errichten und private Sicherheitsdienste engagieren. Sie denken, sie könnten alles kaufen“, sagt Michel Franco, der auch als Produzent tätig ist, „aber Seelenfrieden kannst du dir nicht kaufen. Wenn etwas ungerecht ist, muss sich das ändern.“

Nur, wie kommen wir da heraus? Dass er einen Film gemacht habe, in dem es keinen typischen, schnellen Ausweg am Ende gibt und das Gute doch gewinnt, sondern in dem er die schlimmsten Auswirkungen abbilde, sei seine Art, positiv zu denken. „Im Sinne von: Lasst uns nicht dort ankommen. Aber wenn man die jüngste Vergangenheit betrachtet, wenn man etwa an Sarajevo denkt – die Welt hat zugeschaut“, mahnt Michel Franco. Wenn ihm vorgeworfen wird, nur, und zwar gar genau auf das Grauenhafte zu fokussieren, entgegne er, sich und uns doch nur vor Augen zu führen, wozu wir Menschen fähig sind.

„New Order“ ist brachial und gnadenlos erzählt und stellt am Ende klar: Man muss genau hinschauen, wer die Fäden zieht. Ein wichtiger Film, auf den die einen mit Ablehnung und andere mit trauriger Zustimmung reagieren, mit fast zu drastisch inszenierter Gewalt. Zuletzt führt „New Order“ plakativ und - schließlich fast plump - warnend vor, dass man mitunter mehrere Anläufe braucht, bis man die Verhältnisse durchschaut. Am Ende ist die „neue Weltordnung“ dann eine ganz alte, schon seit der Antike allzu bekannte.

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