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Dramatische Szenen am Kabuler Flughafen

APA/AFP/Wakil Kohsar

Interview

Die Taliban kommen mit wenig Widerstand zurück an die Macht

Die radikalislamischen Taliban sind dabei, in Afghanistan die Macht zu übernehmen – deutlich schneller, als viele erwartet haben. Der Journalist und Afghanistan-Experte Emran Feroz schildert uns, was dort gerade passiert und wieso die Taliban nur auf wenig Widerstand gestoßen sind.

Von Lukas Lottersberger

Nach dem Einzug der Taliban in die afghanische Hauptstadt Kabul versuchen zahlreiche Menschen, das Land zu verlassen. Bilder und Videos zeigen chaotische Zustände auf dem Flughafen der Hauptstadt. Botschafts- und Militärangehörige versuchen auszufliegen, zivile Maschinen heben nicht mehr ab. Sicherheitskräfte halten die Menschen davon ab, den Airport zu stürmen. Bei den Tumulten kamen bereits einige Personen ums Leben (mehr dazu in ORF.at).

Der freie Journalist Emran Feroz beobachtet seit Jahren die Entwicklungen in Afghanistan. Er ist auch mit zahlreichen Menschen vor Ort in Kontakt und analysiert die aktuellen Ereignisse.

Emran Feroz: Am Flughafen herrscht ein ziemliches Chaos. Es gehen immer noch viele Afghanen aus Kabul zum Kabuler Flughafen, um irgendwie ein Flugzeug zu bekommen und zu flüchten. Gleichzeitig sollen dort auch mehrere Angriffe stattgefunden haben. Die amerikanischen Truppen sind immer noch mit der Evakuierung des Botschaftspersonals und so weiter beschäftigt. Da fielen auch Schüsse in Richtung Zivilisten. Anscheinend wurden mehrere Menschen innerhalb des Flughafengeländes getötet.

Es hat mir vorhin noch eine Kontaktperson, die in der Nähe lebt, erzählt, dass auch seitens der Taliban in der Nähe des Flughafens geschossen wurde. Teils in die Luft, teils auch auf die Menge. Er hat mir von Verletzten erzählt und meinte, vielleicht gibt es auch Tote. Gleichzeitig finden viele Flüge gar nicht mehr statt. Da kann ich nur das wiederholen, was ich jetzt mehrmals gesagt habe. Auch in diesem Moment ist es irgendwie „American Lives Matter“. Die Afghanen sollen halt schauen, wie sie vorankommen.

FM4: Auch in der Stadt selbst spielen sich chaotische Szenen ab. Nichtsdestotrotz haben die Taliban innerhalb kürzester Zeit im gesamten Land ohne großen Widerstand Städte und Provinzen eingenommen. Das Narrativ, vor allem in westlichen Medien, ist, dass das Land „im Chaos versinkt“. Kann man das eigentlich auf das ganze Land gesehen tatsächlich sagen, wo es eigentlich kaum zu großen Kampfhandlungen gekommen ist gegen die Taliban bei ihrem Rückeroberungsfeldzug?

Emran Feroz: Ja und nein. Das Narrativ ist, dass das ganze Land in Chaos versinkt und gleichzeitig, dass man selber damit nichts zu tun hat. Das finde ich ein bisschen problematisch. Aber alles, was gerade jetzt in diesen Stunden und in den letzten Tagen in Afghanistan passiert ist, ist eine direkte Folge der westlichen Intervention und der zahlreichen Fehler, die dort begangen wurden. Dass die Taliban vieles kampflos erobert haben, hat damit zu tun, dass der gesamte Sicherheitsapparat seit Jahren von Korruption heimgesucht wird. Viele Soldaten haben einfach gar keine Moral mehr zu kämpfen, weil sie sich fragten: „Wofür soll ich denn kämpfen? Ich bekomme hier keine Kohle und soll jetzt für die sterben, oder was?“

Gleichzeitig wussten eben auch viele, dass die politischen Eliten in Kabul komplett abgekapselt von ihnen leben und wahrscheinlich im Falle eines Umsturzes sofort das Land verlassen werden. So ist es dann auch eingetreten.

Die Lage im Land ist unterschiedlich. Es gibt Regionen, da ist es verhältnismäßig noch ziemlich ruhig und die Taliban haben da auch schon irgendwie lokale Gespräche geführt mit Stammesführern und so weiter, um die Situation nicht eskalieren zu lassen. Gleichzeitig haben wir Szenen aus Kabul. Doch auch in Kabul ist diese Situation überhaupt nicht einheitlich. Es gibt Gebiete, die gerade nicht wirklich von den Taliban kontrolliert werden. Da haben sich anscheinend Diebesbanden ausgebreitet. In den letzten Stunden und auch gestern haben diese den Moment ausgenutzt, um kriminelle Aktivitäten durchzuführen. Da wurden auch Waffen gestohlen und so weiter.

Dann gibt es auch Gegenden in Kabul, wo es eher ruhig ist, wo auch die Taliban zu den Leuten gesagt haben „Macht eure Arbeit, geht in die Schule, was auch immer. Hier stört euch niemand.“ Das Bild ist tatsächlich nicht so einheitlich.

Die Szenen vom Kabuler Flughafen sind fürchterlich. Aber ich würde mal sagen, sie repräsentieren auch nicht die gesamte Situation. Weil viele, die mit dem Flugzeug flüchten wollen, die haben die finanziellen Ressourcen, um das überhaupt zu machen, während viele andere Menschen das nicht haben und gestern und auch in den letzten Stunden einfach zu Hause geblieben sind.

FM4: Österreich hat ja bis zuletzt gesagt, dass man solange wie möglich nach Afghanistan abschieben möchte. Wie viel davon ist denn eigentlich Rhetorik? Und kann man überhaupt noch nach Afghanistan abschieben unter diesen Umständen?

Emran Feroz: Nein, natürlich nicht. Aber auch nicht unter den Umständen, die zuvor geherrscht haben. Er hat es noch eine Zäsur stattgefunden, aber die Situation davor war auch extrem unruhig. In so ein Land Menschen abzuschieben, ist meiner Meinung nach ein absoluter Skandal. Auch, dass man da auch weiterhin darauf beharrt hat und dass Innenminister Nehammer vor einigen Tagen gesagt hat, man müsse jetzt so viel abschieben, wie es geht. Gleichzeitig haben andere EU-Staaten einen Abschiebestopp verhängt, und mittlerweile auch einige Balkanstaaten. Die haben sich bereiterklärt, mehr afghanische Flüchtlinge aufzunehmen, während Österreich solche Spielchen spielt. Das ist meiner Meinung nach schon ziemlich skandalös.

Was das für Auswirkungen hat, das kann ich hier auch kurz erläutern. Ich stehe mit einem abgeschobenen Freund in Kontakt. Der lebt in einem Vorort von Kabul, der von den Taliban mittlerweile auch kontrolliert wird. Der hat mir gestern Bilder und Videos geschickt, wie vor seiner Haustür ein toter Soldat gelegen ist und meinte, ob ihm das irgendwie helfen würde, wenn er das seinem Anwalt in Österreich schickt. Die Sicherheit dieser Abgeschobenen kann niemand garantieren. Niemand konnte das zuvor garantieren und jetzt erst recht nicht mehr.

FM4: Die Taliban haben das Land ja in den 1990er-Jahren mit sehr, sehr harter Hand regiert. Jetzt scheinen sie sich plötzlich in Diplomatie zu üben und sie betonen immer wieder, dass sie eine möglichst friedliche Machtübernahme wollen und bieten auch Gespräche mit allen möglichen Akteuren an. Wie viel darf man davon eigentlich glauben?

Emran Feroz: Ich denke, der Zug ist leider abgefahren. Aus Sicht der Taliban würde es meiner Meinung nach jetzt wenig Sinn machen, also nach der Eroberung des Präsidentenpalastes, jetzt hier noch einen auf Dialog zu machen, weil man ja die Meinung vertritt, man hat sowieso alles erobert. Gestern hieß es auch noch, dass eine Interimsregierung womöglich an die Macht kommt und das andere politische Akteure, die im Gegensatz zu Präsident Ashraf Ghani in Afghanistan geblieben sind, in Gesprächen mit den Taliban seien. Aber am Abend wurde der Präsidentenpalast von den Taliban erobert und es hieß auch seitens mehrerer Taliban-Offizieller, dass man jetzt alles erobert habe und es keine Interimsregierung geben würde. Deshalb denke ich, dass dieser Moment verpasst wurde.

Natürlich kann man jetzt auch extrem optimistisch sein und sagen: Vielleicht meinen es die Taliban wirklich so. Die holen alle an Bord und sagen: „Lasst uns miteinander sprechen.“ Aber ich denke, dass das nicht stattfinden wird.

FM4: Die NATO hat sich jetzt auch wieder an den Tisch gesetzt und berät darüber, wie man mit der Situation in Afghanistan umgehen soll. Auf der anderen Seite gibt es auch Akteure wie Russland oder China. Russland hat gezögert, das Botschaftspersonal abzuziehen. China hat offenbar vor kurzem mit Taliban-Vertretern gesprochen. Was geht da international gerade im Hintergrund ab? Und wird es einen neuen Einmarsch der NATO geben? Oder sind da schon andere Allianzen, die im Hintergrund geschmiedet worden sind?

Emran Feroz: Ich denke, es wird keinen neuen Einmarsch der NATO geben. Ich denke, es gibt dafür auch überhaupt nicht den politischen Willen. Das würde auch logistisch keinen Sinn machen. Wie soll das denn hinhauen? Die Taliban haben mittlerweile Baghram eingenommen. Das war der größte US-Luftwaffenstützpunkt in Afghanistan. Vor rund einem Monat haben die US-Amerikaner Baghram in einer Nacht- und Nebelaktion verlassen, die afghanischen Alliierten dort quasi alleine gelassen und denen anscheinend auch nichts gesagt von ihrem Abzug. Und Baghram liegt mittlerweile in den Händen der Taliban. So wie alle anderen Stützpunkte.

Gleichzeitig haben die Taliban in den letzten Wochen, Monaten und auch Jahren Brücken aufgebaut zu regionalen Akteuren. Sprich: China, Russland, aber auch Iran, natürlich auch Pakistan, dem immer eine sehr große Nähe zu den Taliban vorgeworfen wird. Diese Staaten haben hier schon auch ihre politischen Spielchen am Laufen und zum Teil eben auch die Taliban komplett anerkannt. Man sah das schon vor einigen Tagen zum Beispiel an der Reaktion eines iranischen Offiziellen, der die Taliban nicht als Taliban bezeichnete, sondern deren offizielle Bezeichnung benutzt hat: Das „Islamische Emirat Afghanistan“. Er behauptete, das Islamische Emirat Afghanistan habe eben so viele Provinzhauptstädte erobert. Man merkt auch schon an diesem Jargon, dass man sich mit dieser Realität abgefunden hat.

Ich denke, dass das auch bald im Westen so der Fall sein wird und denke, dass da vieles noch regional stattfinden wird. Aber ich bezweifle, dass es zu einem neuen Einmarsch kommt.

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