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Taliban fighters stand guard at an entrance gate outside the Interior Ministry in Kabul on August 17, 2021

Javed Tanveer / AFP

Interview

Wer sind die Taliban und was haben sie vor?

Wo hat die radikale Gruppierung ihren Ursprung, wie ist sie organisiert und welche Ziele verfolgt sie? Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger beantwortet uns diese Fragen.

Von Lukas Lottersberger

Mitte der 1990er-Jahre haben die Taliban in Afghanistan ein Emirat ausgerufen und in den von ihnen kontrollierten Gebieten mit extrem harter Hand regiert. Frauen standen praktisch unter Hausarrest; Musik, Tanz und Unterhaltung aller Art wurden verboten und drakonische öffentliche Bestrafungen waren an der Tagesordnung.

Jetzt hat diese Gruppierung innerhalb kürzester Zeit nach dem Abzug der US- und NATO-Truppen die Kontrolle im Land zurückerobert. Was haben die Taliban jetzt in Afghanistan vor?

Der Politikwissenschaftler und Anthropologe Thomas Schmidinger von der Uni Wien erklärt im FM4 Interview die Ursprünge sowie die Ziele der Gruppierung, und schildert mögliche Folgen ihrer erneuten Machtübernahme:

Politikwissenschaftler Thomas Schmidinger

Flickr Heinrich-Böll-Stiftung / CC BY-SA 2.0 / Wikimedia Commons

Thomas Schmidinger, CC BY-SA 2.0

Thomas Schmidinger: Die Taliban sind eigentlich aus Koranschulen hervorgegangen. Deshalb auch ihr Name Taliban – „die Schüler“. Und zwar sind das Koranschüler, die in Koranschulen des sogenannten Deobandi-Ordens in Pakistan als Schüler aktiv waren. Es sind überwiegend Nachkommen von Flüchtlingen aus Afghanistan, die während des ersten Afghanistan-Krieges, also während der sowjetischen Afghanistan-Invasion, als Flüchtlinge in Pakistan aufgewachsen sind.

Vielfach waren es auch Waisenkinder, die in diesen Koranschulen großgezogen worden sind und die dann nach der Machtübernahme der Mudschaheddin – nach dem Sturz des pro-sowjetischen Regimes und nachdem die Mudschaheddin einen Bürgerkrieg zwischen den verschiedenen Mudschaheddin-Fraktionen in Afghanistan begonnen haben – von Pakistan aus großteils sogar anfangs unbewaffnet nach Afghanistan zurückgekehrt sind, dort das Land von Süden her aufgerollt haben und einen Großteil des Landes unter ihre Kontrolle gebracht haben.

FM4: Was sind eigentlich die ideologischen Grundlagen der Taliban und welche Ziele verfolgt die Gruppe?

Thomas Schmidinger: Ihre Vorstellungen vom Islam und von einem islamischen Strafrecht sind eine Mischung aus einem extrem rigiden Islamverständnis, wie wir es teilweise auch etwa aus Saudi-Arabien kennen und eben paschtunischen, tribalen Traditionen. Das ist im Wesentlichen das, was deren politisches Programm ist. Beim ersten Versuch, ein islamisches Emirat zu errichten, ist es wirklich zu Exzessen gegen Frauen, aber auch teilweise gegen Angehörige religiöser Minderheiten gekommen. Jetzt gibt es zumindest offiziell ein Bekenntnis dazu, dass zum Beispiel Frauen weiterhin in die Schule gehen dürfen, dass sie nicht zu Burka, sondern nur zum Tschador gezwungen werden. Wie weit das hält und wie weit diesen Versprechungen oder Ankündigungen irgendein Vertrauen zu schenken ist, das müssten die Taliban selbst die nächsten Monate beweisen. Sehr viele Afghanen trauen diesen Versprechen nicht.

Was der Unterschied zu diesen dschihadistischen Gruppierungen wie dem sogenannten Islamischen Staat und Al-Kaida ist, ist, dass die Taliban tatsächlich immer ein regionales Projekt waren. Ihnen ging es um Afghanistan und um die paschtunischen Gebiete in Pakistan und nie darum, ein globales Kalifat zu errichten. Die Taliban hatten eigentlich immer eine kollektive Führung und das gilt auch heute noch. Wer sich jetzt in den nächsten Wochen wirklich dann als formales Oberhaupt des „Islamischen Emirats Afghanistan“ durchsetzen wird, das ist für mich noch nicht so ganz klar.

Es ist jetzt zentrale Frage eigentlich, ob die Taliban gewissermaßen im Alleingang einen Staat ausrufen und gründen, in dem ausschließlich ihre eigenen Leute in wichtigen Positionen sitzen oder ob sie das verwirklichen, was sie angekündigt haben, nämlich so ein „Islamic Inclusive Government“. Es könnte durchaus sein, dass es den Taliban wichtig genug ist, international anerkannt zu werden, dass sie einige Personen, die keine Taliban sind, aber bereit, mit ihnen zusammenzuarbeiten, in so eine Art Übergangsregierung inkludieren. Aber eins ist klar: Auch solch eine Übergangsregierung würde unter einem ganz starken Einfluss der Taliban stehen. Und de facto sind die Taliban nun in ganz Afghanistan an der Macht.

FM4: Warum sind die Taliban eigentlich so unterdrückerisch gegenüber Frauen?

Thomas Schmidinger: Ein Element ist eine sehr patriarchale Interpretation des Islams. Aber es hat auch mit dem ebenso patriarchalen, paschtunischen Stammesrecht, dem Gewohnheitsrecht Paschtunwali, zu tun. Und es hat auch mit dem Krieg zu tun, mit der Kriegssituation. Die Taliban haben die Verdrängung der Frauen aus dem öffentlichen Raum immer damit begründet, dass es angesichts des Krieges zu gefährlich wäre für die Frauen und haben sich als Beschützer der Frauen aufgespielt. Das ist natürlich einerseits ein billiges Argument. Aber gleichzeitig spielt es tatsächlich eine Rolle, nicht nur wie der Staat oder wie die Obrigkeit mit Frauen umgeht, sondern vor allem auch, wie die Gesellschaft mit Frauen umgeht. In einer Situation, in der es alltägliche Kriegsgewalt gibt, ist es relativ leicht, die Frauen mit dem Sicherheitsargument in den häuslichen Raum zurückzudrängen. Das gilt nicht nur für die Taliban.

FM4: Wie wird sich jetzt eigentlich die Situation für Frauen ändern, wenn die Taliban tatsächlich wieder an die Macht kommen?

Thomas Schmidinger: Frauen, die Lohnarbeit machen, Frauen, die studieren gehen, Frauen, die halb westlich gekleidet auf die Straße gehen, das war ein Phänomen von Kabul und einigen wenigen anderen Großstädten und dort nur für die Mittel- und Oberschichten. Das heißt, für ganz viele Frauen am Land ändert sich sowieso relativ wenig, weil es für die auch wenig Fortschritte unter dem letzten prowestlichen Regime gegeben hat.

Natürlich fürchten genau diese kleinen Mittel- und Oberschichten aus dem urbanen Raum, dass jene Erfolge, die es gegeben hat, wieder rückgängig gemacht werden könnten. Und von dem, was wir von den Taliban von vor 20 Jahren wissen, sind diese Befürchtungen durchaus ernst zu nehmen. Arbeitende Frauen. Frauen, die als Lehrerinnen oder gar an Universitäten tätig sind, wird es im zukünftigen Afghanistan unter einer Taliban-Herrschaft mit großer Wahrscheinlichkeit nicht geben.

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