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Lee Perry

APA/AFP/RICHARD BOUHET

Der Dalí der Musik

Lee „Scratch" Perry, vielleicht die letzte Reggae-Integrationsfigur und der Erfinder des Dub, ist am Sonntag 85-jährig auf Jamaica verstorben. Der Jamaikaner ist seit den frühen Sechziger Jahren als Produzent aktiv gewesen, seine Arbeit in den Studios von Coxsone Dodd und Joe Gibbs, die Riddims seiner Backing Band The Upsetters und nicht zuletzt seine kurze, aber produktive Freundschaft mit Bob Marley waren entscheidende Bausteine für den Welterfolg des Reggae.

Von Boris Jordan

Perrys „Black Ark“-Studio war der Geburtsort seiner eigenen Variante dieser damals als seltsam empfundenen jamaikanischen Calypso-Variante mit den verschobenen Akzenten, die hauptsächlich US-amerikanische Hits in ein touristisch akzeptables Sommergewand kleideten. Durch die Songwritertalente der Roots Generation und die Produktivität der jamaikanischen Studios um Perry und den erwähnten Coxsone Dodd etablierte sich der Reggae als (bis heute) glaubwürdige eigene Kunstform und etablierte Jamaika innerhalb einer Generation als Weltmacht des Pop.

Aufbauend auf dem Sog des Erfolgs der Roots Generation um die Wailers, aber auch nicht zuletzt durch die vielen sehr eigen klingenden, von Perry produzierten Hits von Max Romeo, der Congos oder von Junior Murvin, galt Jamaica - und somit auch Perrys Studio - seit den frühen Siebziger Jahren als Garant für europäischen und amerikanischen Chartserfolg, und die Hippiegeneration von Joe Cocker über die Rolling Stones, Paul McCartney bis Robert Palmer benutzten die Aufnahmetechniken der Jamaikaner und ihren Einfallsreichtum, um sich in unbekannten musikalischen Gefilden neu zu erfinden und ihrer - von ihnen selbst wohl schon oft genug als langweilig empfundenen - Rockmusik eine Rebel-Glaubwürdigkeit zu verleihen.

Meister der Manipulation der Klänge

Doch Lee Perry hatte noch ein eigenes Süppchen am Kochen. In seinem „Black Ark“-Studio begriff Lee Perry – vielleicht zusammen mit Brian Eno als einer der Konsequentesten - das Studio als Instrument. Und anders als seine amerikanischen oder britischen Kollegen benutzt er es nicht, um existierende Klangräume oder Orchester zu verbessern oder nachzustellen - er benutzt es, um die ursprünglich aufgenommene Musik zu verfremden, ja teilweise zu zerstören, um so eigene Klangräume herzustellen, am besten solche, die so klingen sollen, als wären sie gerade nicht von dieser Welt. Er ist ein Teufel der Manipulation. Er nimmt die instrumentalen Einzelspuren und verfremdet sie derart, dass nicht selten vom ursprünglichen Klang nicht mehr viel übrig ist: Die Bänder werden gedehnt, quer durch das Zimmer um Besenstiele geleitet und so mechanisch in ihrer Geschwindigkeit manipuliert, rückwärts Gespieltes wird versetzt über vorwärts Gespieltes gelegt. Die Lead-Instrumente (Vocals, Gitarren, Bläser) werden durch Frequenzmanipulationen unkenntlich gemacht oder in eigens gebauten Echokammern vervielfältigt, die Echospuren lauter abgemischt als die originalen.

Manchmal verzichtet Perry auch überhaupt auf Gesang und Melodie und ersetzt diese durch beschwörendes, rhythmisches Sprechen, das sogenannte „Toasting“, das als Vorläufer oder früher Weggefährte des in den USA entwickelten Rappens gelten darf. Einzeln herausgefilterte Frequenzen werden gedoppelt und über die ursprünglichen Tracks gelegt, die Rhythmustracks werden bis zur Schmerzgrenze verlangsamt, die Bässe in den unteren Frequenzen hervorgehoben und im Mix nach vorne gestellt. Das kinematographische Element hat der Western-Fan Perry nicht zu kurz kommen lassen, mit Hilfe von Panoramaeffekten und viel Raumhall werden hier buchstäblich „Räume“ erzeugt und Bilder evoziert. Das alles wird häufig und prominent in eine von Lee Perry vielleicht am innovativsten genutzte Technik verpackt: Mit Hilfe von Bandschleifen – „Tape Loops“ - werden die manipulierten Teile des Soundspektrums parallel zur Aufnahme endlos abgespielt und an strategischen Stellen im Studio zugespielt.

Dazu ist der große Klangmanipulator Perry aber stets bemüht, dass die harmonische „Spiritualität“ in seiner Musik das Wichtigste bleibt, das Experiment alles Teuflische verliert und sich in seine Vorstellungen von Pantheismus und Seele einfügt, eine naturidente Schönheit ausstrahlt – richtige Dissonanzen oder Hörgewohnheiten unangenehm Störendes wie im Jazz oder der modernen klassischen Musik der Zeit finden sich hier selten - all das untersteht stets dem gebieterischen Takt des warmen, swingend-treibenden „Riddims“, dieses Welterfolgs eines Beats, an dem man sich stets bei allem Klangirrsinn festhalten können muss. Der „Dub“ ist geboren. Lee Perry ist sein Hohepriester und Schamane, sein Erschaffer und Zerstörer. Er ist dabei bisweilen auch ein Zerstörer seines eigenen Körpers - dem Vernehmen nach soll er sich selbst auferlegt haben, während einer Aufnahmesession sein eigenes Körpergewicht in Ganja und Rotwein zu sich zu nehmen.

Irgendwann bemerkt Lee Perry, dass sein legendäres „Black Ark“-Studio „vom Teufel besessen“ ist, somit ist es spirituell unbrauchbar, und er brennt es nieder.

Während die rebellische Kraft der Reggae Beats unter der Vielzahl der „Sommer, Sonne, Strand“-Fließbandhits der Siebziger und Achtziger etwas matt zu knittern beginnt, schillern die mystischen Emanationen des so gottgläubigen wie egomanischen Mr Perry über mehrere Generationen. Die britischen Punks verehren ihn, die HipHop-DJ-Pioniere Kool Herc und Grandmaster Flash nehmen sich seine Cut-up-Technik zum Vorbild: Die Tape Loops des „Black Ark“-Studios sind die Blaupause für den endlosen Breakbeat, der bei den Straßenpartys von New York dann mit zwei Plattenspielern erzeugt wird – was das bis heute bedeutet, braucht man HipHop-Fans nicht näher zu erläutern.

Die Arrangements von Adrian Sherwood für das Label On-U Sound und die Dennis Bovells für Linton Kwesi Johnson beziehen sich direkt auf Lee Perry. Die Riddims seines Schülers Sly Dunbar gehören – zusammen mit dem Bass von Robbie Shakespeare – zu den unverwechselbaren Klangkörpern des Pop und waren in den Achtziger Jahren die Basis für die Karrieren von Peter Tosh und Grace Jones, er selbst wird zeitlebens von Musikern von Keith Richards bis Bob Dylan ebenso verehrt wie von vielen namenlos gebliebenen Reggae-Musiker*innen – vor allem wegen Tantiemenfragen - bekämpft. Eine der letzten großen Anstrengungen des Mr Perry waren die Kollaborationen mit der österreichischen Reggaeband Dubblestandart, bei deren Aufnahmen auch Ari Up von den Slits und der Regisseur David Lynch zu hören sind, und die ihn in den letzten Jahren auch auf Tour begleitet hat.

Ohne die radikale Produktionsweise dieses zuweilen recht merkwürdig anmutenden Mannes wären die meisten der in den letzten 40 Jahren als selbstverständlich empfundenen Produktionsprozesse der modernen Popmusik vielleicht trotzdem entstanden, aber zeigt mir einen Produzenten oder eine Produzentin von modernem HipHop, Ambient, Dubstep, Techno oder jeglicher elektronischer Musik, der oder die sich die Radikalität, den Mut und die visionäre Kraft von Lee Perry nicht zum Vorbild genommen hat. Für die (mittlerweile weit größere) Hälfte der nicht auf analogen, hölzernen Instrumenten erzeugten Popmusik aller Couleur dürfte es – was Produktion betrifft - außer Kraftwerk kaum jemanden geben, dem sie mehr verdankt.

Seit den Achtziger Jahren hat Lee Perry in der Schweiz gelebt und ist am Sonntag in einem Krankenhaus in Lucea auf Jamaica verstorben.

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