Lukas und die Herbstmelancholie
Eine Kolumne von Todor Ovtcharov
Der Sommer ist vorbei. Die Bevölkerung schlürft ihre letzten Spritzer im Freien am Donaukanal und fragt sich, ob man auch im Herbst und im Winter diesen Spaß haben wird. Lukas hatte auch ein paar Spritzer und hat jetzt die Herbstmelancholie.
Er ist sich sicher, dass die Menschheit verdammt ist und selbst daran schuld. Laut Lukas sind wir alle gierige Heuchler. Zu den Heuchlern zählt er auch sich selbst. Neulich fragte ihn eines seiner Kinder “Papa, warum arbeitest du mit Herrn Soundso, wenn du gestern doch gemeint hast er sei ein skrupelloses Arschloch?” Lukas hatte keine ehrliche Antwort darauf. Das Argument, dass man Miete zahlen und essen muss, erschien ihm nicht plausibel genug. “Ich fühlte mich wie eine moralische Nutte!”, sagt Lukas. “Wie kann ich nur meinen Kindern wahre Werte vermitteln!”
Radio FM4
Ich versuche, ihn damit zu beruhigen, dass es Hoffnung gibt, wenn sein Kind ihm solche Fragen stellt. Lukas schüttelt den Kopf. “Ich fühle mich wie Nero, der auf seiner Lyra das brennende Rom besingt.” Ich scherze, dass das einzige, was er spielen kann, das Radio in seinem Auto ist. Dieser Scherz macht ihn noch trauriger. Er stellt sich vor, wie er in seinem Auto sitzt, “The Man who sold the World” im Radio gespielt wird, und er den Rauch, wenn nicht vom brennenden Rom, dann wenigstens von den Waldbränden in Griechenland und Kalifornien riecht
Was eben alles im Kopf eines Menschen passiert, der von der Herbsmelancholie erdrückt wird. Er meint, wir werden unseren Kindern nichts mehr hinterlassen können, denn die Welt ginge unter. “Wir sind Neandertaler, die ihre Zähne mit Atomraketen putzen!”, sagt er betrübt. Er klopft mir auf die Schulter und geht nachhause, so als ob das unser letztes Gespräch gewesen wäre.
Am nächsten Morgen ruft mich Lukas an. Er erzählt mir, dass er nach Hause kam und seine kleine Tochter im Internet immer den gleichen Ausschnitt aus dem “Blumenwalzer” aus dem Nussknacker von Tschaikowski schaute. Sie spulte die Ballerinas vor und zurück und ließ sie in der Luft hängen. “Weißt du was”, sagt Lukas, “vergiss unser gestriges Gespräch. Ich sah in ihren Augen eine Welt, die in die Luft schwebt. So leicht, so ätherisch, aber eine ganze Welt. Vielleicht gibt es doch Hoffnung!“
Publiziert am 01.09.2021