FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Schwarz/Weiß-Bilder aus "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Vento Film

film

Tauchgang ins Wien der 60er mit „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“

Die Wiener Unterwelt in den 60er Jahren - eine schummrige Parallelwelt zwischen illegalem Glücksspiel und Revierkämpfen. Der Dokumentarfilm „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ gibt tiefe Einblicke in dieses Milieu und holt zwei charismatische Protagonisten vor die Kamera, den Wienerliedsänger Kurt Girk und den Unterweltkönig Alois Schmutzer.

Von Jan Hestmann

Eine stark ausgeprägte Faszination für dieses Milieu hatte das Regieduo Tizza Covi und Rainer Frimmel schon, bevor sie sich in die Recherchearbeiten für ihren neuen Dokumentarfilm „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ stürzten: „Seit ich den Rainer kenne, hat er Bücher über die Wiener Unterwelt auf seinem Nachtkästchen liegen“, sagt Covi über ihren Partner, mit dem sie seit 1996 gemeinsam Filme macht. Auch eine große Leidenschaft für das Wienerlied verbindet die beiden: „So haben wir dann auch Kurt Girk kennengelernt.“

Girk ist eine der beiden zentralen Figuren in dem Film. Der legendäre Wienerliedsänger mit markanten Gesichtszügen trägt Anzug. Damals wurde er auch der Frank Sinatra von Ottakring genannt. Girk war aber nicht nur ein beliebter Sänger im Wien jener Zeit. Er pflegte auch eine enge Freundschaft zu Schmutzer, dem sein Ruf als König der Unterwelt vorauseilte. Polizei und rivalisierende Banden fürchteten den kräftigen Schmutzer mit den großen Händen, die Boulevardpresse liebte ihn für die Schlagzeilen, die er und sein Umfeld ihnen regelmäßig lieferten. Brutale Zusammenstöße standen auf der Tagesordnung. Schließlich kam es zu einem bis heute umstrittenen Prozess, der Girk und Schmutzer für viele Jahre ins Gefängnis brachte.

Schwarz/Weiß-Bilder aus "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Vento Film

Alois Schmutzer erzählt von der Wiener Unterwelt, in der er in den 60er Jahren eine zentrale Rolle spielte.

Für ihren Film haben Tizza Covi und Rainer Frimmel Kurt Girk und Alois Schmutzer jahrelang begleitet und vor die Kamera geholt, um sie die Geschehnisse von damals aus ihrer Perspektive erzählen zu lassen. Eine wahre Goldgrube, wie sich zeigt. Denn man kann gar nicht anders, als den beiden von der ersten bis zur letzten Minute an den Lippen zu hängen. So spektakulär, traurig, lustig sind ihre Anekdoten aus einer kleinen Parallelwelt, geprägt von Revierkämpfen und dem illegalen Glücksspiel Stoß. „Das illegale Glücksspiel hat auch das Wienerlied finanziert“, zitiert Regisseur Frimmel den Sänger Girk.

Das illegale Glücksspiel „Stoß“ hat das Wienerlied finanziert.

Auf Film und in Schwarz-Weiß sind die Gespräche mit Girk, Schmutzer, Bekannten von ihnen sowie auch Polizeibeamten gebannt. Dabei werden oft dieselben Vorkommnisse aus unterschiedlichen Perspektiven geschildert, sodass man am Ende gar nicht mehr so genau weiß, was nun stimmt und was nicht. Einen glühenden Ofen soll Schmutzer einmal mit bloßen Händen auf die Polizisten geworfen haben. Hat er? Nein, so weit, dass er ihnen den Ofen auf den Schädel geworfen hätte, sei es dann doch nicht gekommen, revidiert Schmutzer in einer Aufnahme. So ist „Aufzeichnungen aus der Unterwelt“ auch eine spannende Studie über erzählte Wahrheit und Unwahrheit und alles, was dazwischen liegt. „Eine Wiener Unterwelt hat’s nie gegeben“, winkt Schmutzer schon zu Beginn des Films neckisch ab. Jetzt will man erst recht mehr darüber erfahren.

Schwarz/Weiß-Bilder aus "Aufzeichnungen aus der Unterwelt"

Vento Film

Oben ohne: Der kräftige Alois Schmutzer in jungen Jahren, von der Polizei gefürchtet

Der Film offenbart auch die Schönheit der alten Wiener Sprache. Unzählige Ausdrücke kommen da vor, oft milieugefärbtes Vokabular, dessen Bedeutung teils schon in Vergessenheit geraten ist. Frimmel, der die Kamera bedient, fragt dann manchmal aus dem Off nach. Was heißt das und wie ist das gemeint? So entfaltet sich diese Welt mit all ihren Regeln, Eigenheiten und und ihrer eigenen Sprache vor einem. Es ist schwer, Girk und Schmutzer dabei nicht ins Herz zu schließen. Zwei nachdenkliche, charismatische Menschen sitzen da und erzählen. Wenn sie später von der Tat sprechen, die sie ins Gefängnis gebracht hat („a Briaftaub mochn“, was heißen soll: einen Postboten überfallen), die sie aber allem Anschein nach nie begangen haben, dann leidet man auch mit ihnen.

Kinostart: 10. September 2021

Girk und Schmutzer sind mittlerweile beide verstorben (Schmutzer konnte den fertigen Film letztes Jahr noch sehen). Es ist ein außerordentlicher Glücksfall, dass Covi und Frimmel ihre Geschichte konservieren konnten und sie damit weiterleben lassen. Eine spannende und oft auch sehr humorvolle Milieustudie, die das Wien der 60er von einer wenig beleuchteten Seite zeigt, darüber hinaus aber auch viel über eine weitere Parallelwelt, die des Gefängnisses, erzählt. Ein Erlebnis.

mehr Film:

Aktuell: