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The Bug

Ninja Tune

Das Gegenteil von Eskapismus

Dancehall, Noise, tiefe Bassfrequenzen und eine apokalyptische, urbane Soundkulisse verbindet der britische Produzent Kevin Martin aka The Bug zu einem pushenden und intensiven Hörerlebnis, das seinesgleichen sucht.

Von Natalie Brunner

Die Wortkombination „apokalyptisch/urban“ wird im Zusammenhang mit der Musik von The Bug sehr oft verwendet. Es sind aber keine Science-Fiction-Szenarien, die er in Zusammenarbeit mit MCs wie Flowdan, Manga Saint Hilaire, Roger Robinson und Moor Mother aufziehen lässt, sondern es sind Vertonungen des Horrors, den reale politische Gegebenheiten wie Migrationspolitik, rassistische Polizeigewalt, Gentrifizierung und Ghettoisierung bedingen.

Albumcover mit Flammen

Ninja Tune

The Bug - „Fire“

Drei Jahrzehnte lang hat Kevin Martin musikalische Grenzbereiche ausgelotet. Noise mit kathartischen Effekten und Bass in organmassierenden Frequenzen haben seine Projekte und Zusammenarbeiten (unter den Pseudonymen GOD, Techno Animal, Curse of The Golden Vampire und King Midas Sound) der Welt beschert. Am konsequentesten, jetzt schon seit fast 20 Jahren, operiert Kevin Martin unter dem Alias The Bug und schafft ein Terrain, auf dem die Swans und Lee „Scratch“ Perry mehr Gemeinsames als Trennendes haben, auf musikalischem wie auf ideellem Level.

2008, als Dubstep begann sich auszubreiten, erschien „London Zoo“, das erste Album von The Bug, ein Highlight an noch nie zuvor gehörten, wuchtigen Dancehall-Mutationen. Vergangene Woche wurde nach siebenjähriger Pause das neue, 14 Nummern umfassende Album „Fire“ veröffentlicht. Ähnlich knapp und prägnant wie der Albumname und auch keine Fragen offen lassend sind die Titel der Stücke: „Hammer“, „Bang“ „Pressure“, „War“, „Clash“.

Auf „Fire“ finden sich schwere Dancehall Riddims, Grime, metallener Industrial mit tiefer Bassunterfütterung und Dub-Mutationen in einer solchen Intensität, dass ich beim ersten Hören ungläubig meine Kopfhörer abgesetzt und wieder aufgesetzt habe. Ich habe nicht für möglich gehalten, dass die Teile in der Lage sind, solche Klanglandschaften wiederzugeben. Klassischer Fall von herunterfallender Kinnlade. The Bug schafft eine akustische Umgebung, die Menschen physisch und psychisch verändert. In mir lodert bei jedem Hören von „Fire“ und ganz prinzipiell von The-Bug-Produktionen das Bedürfnis, diese Musik möglichst bald in der Liveumsetzung auf einer mächtigen PA zu hören.

Herausragend sind auch die Beiträge der Vokalist*innen, Dichter*innen und MCs, die The Bug geladen hat. Im Vorfeld hat er sie zu so konkret politischen Texten wie möglich ermutigt. The Bug spricht von den Menschen, mit denen er arbeitet, als seiner Familie, die eine moralische Haltung mit ihm teilt. Es sind keine gemieteten Stimmen, sondern Gefährt*innen, die das Universum von The Bug permanent bewohnen und mit menschlichen Stimmen beleben. Der Grime MC Flowdan, dessen sinistrer Humor The Bug schon seit Jahren auf Alben und live begleitet, ist in „Pressure“, „Hammer“ und „Bomb“ zu hören, der Dancehall- und Jungle-MC-Veteran Daddy Freddy in „Ganja Baby“, die afroamerikanische Musikerin, Dichterin und Aktivistin Moor Mother in „Vexed“.

Das Album ist geprägt von der globalen Entwicklung hin zu rechtem Populismus, dem Brexit, der Covid-19-Pandemie und deren Folgen. Über den Geisteszustand und die Verfassung, aus denen heraus „Fire“ entstanden ist, schreibt Kevin Martin alias the Bug in der Presseinfo:

„2020 war die Verwirklichung der schlimmsten dystopischen Alpträume, die ich mir vorstellen konnte - ein Teil von mir war panisch, der andere Teil von mir fragte sich ‚wie werde ich gesund bleiben?‘. Um die Ruhe zu bewahren, habe ich angefangen, Soloalben zu machen, was meditativ war, mich wieder mit mir selbst in Kontakt brachte und mir ermöglichte, mein Studio wieder aufzubauen, was mich am Arbeiten hielt und mir half, einen klaren Kopf zu behalten. Das war entscheidend, denn ich habe im Laufe meines Lebens erkannt, dass das, was mich auf dem Boden hält, die Musik ist. Früher dachte ich, dass ich mich im Jetzt, in der Realität, in der Sensation, in der Information vergraben will. Mit der Zeit habe ich erkannt, dass ich eigentlich eine parallele Welt im Sound erschaffen will, und das Studio gab mir eine Flucht davor, wie beschissen die Welt im letzten Jahr war. Das ist etwas, von dem ich denke, dass man es auf dem ganzen Album hören kann."

The Bug macht Musik, die das Gegenteil von Eskapismus ist, und einen durchaus physischen Raum errichtet, der, so Kevin Martin, dabei hilft, „die erdrückende Tyrannei der Existenz oder die betäubende Langeweile des Lebens zu überwinden". „Fire“ ist Musik, die in ihrer ungebrochenen Widerständigkeit deine Wahrnehmung und dadurch dein Leben verändert.

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