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Weiteres leeres Supermarktregal

Robert Rotifer

ROBERT ROTIFER

„Sie sehen doch, was hier los ist!“

Wenn schon in einem britischen Tourismusort Sandwiches zur Mangelware werden, ist es dringend Zeit, ganz viel an den Krieg zu denken und Flüchtlingsboote zu schubsen.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Vor zwei Wochen oder so war noch Feriensaison, ihr werdet euch erinnern. Da war ich auf ein paar Tage bei Freund*innen in Wales, und es erschien als gute Idee, einmal im berühmten Bücherdorf Hay-on-Wye vorbeizuschauen, wo sich seit den Sechzigern bis Achtzigern des letzten Jahrhunderts eine Anhäufung von Second-Hand-Schmökerläden zu einem jährlichen Literaturfestival samt zugehörigem Tourismusangebot ausgewachsen hat.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Hay liegt nämlich ziemlich beschaulich an einem Flüsschen (Wye, logischerweise), und als wir da ankamen, sahen wir an dessen gegenüberliegendem Ufer noch eine zusätzliche Zeltstadt zur Unterbringung des aus anderen Teilen des Königinnenreichs angereisten Bildungsbürger*innentums. Den ganzen grünen Abhang einer - anzunehmen - Schafheide hinauf standen da endlose Reihen uniformer sandfarbener Rundzelte, dekoriert mit rot-weiß-blauen Wimpeln, die in der niedlichen Flatterhaftigkeit ihres Cupcake-Patriotismus klarstellten, dass es sich hier nicht um ein Militär- oder Flüchtlingslager handelte, sondern das, was man etwas angestrengt wortspielend „glamping“ nennt (Camping plus Glamour, klingt wie ein von Nicht-Anglophonen erfundenes Wort, Obacht vor Leuten, die es sarkasmusfrei verwenden).

Glamping jedenfalls ist tourismustechnisch gesehen eine praktisch kurzfristige Lösung zum Abmelken des Marktsegments „Staycation“. Was früher einmal ein Euphemismus dafür war, aus Geldmangel seinen Urlaub in den eigenen vier Wänden zu verbringen, steht seit Covid für von ständig veränderten Reisevorschriften unbehelligtes Urlauben auf der eigenen Insel und erweist sich als ein für Brit*innen überraschend bis schockierend teures Experiment (hätt ich ihnen gleich sagen können).

Ich weiß nun nicht, ob Hay-on-Wye sich eigens für dieses Zielpublikum rausgeputzt oder ob ich wieder irgendein Jubiläum verpasst hatte, aber das rot-weiß-blaue Thema war auch in den Schaufenstern unübersehbar, vermengt mit allerhand kriegsnostalgischem Klimbim.

Auslage mit Kriegsandenken in einem Schaufenster in Hay-on-Wye

Robert Rotifer

Kriegsnostalgische Auslage einer Apotheke in Hay-on-Wye, im Bildvordergrund das blaue Ration Book

In der Auslage einer Apotheke war etwa ein originales Ration Book ausgestellt, wo die Leute im Krieg bzw. in den Jahren danach ihre Lebensmittelmarken zu sammeln pflegten. So eine Erinnerung an Entbehrungen zum Nostalgieobjekt zu stilisieren, würde wohl kaum einem anderen Land einfallen, aber es überrascht mich nicht mehr bzw. passt es in die medial seit anderthalb Jahren hart gepushte Erzählung der Coronakrise als kriegsähnlicher Moment des nationalen Zusammenhalts und kollektiven Opferbringens.

Entbehrung als Experience - fast wie damals

Was allerdings unerwartet kam, war die sehr konkrete Note dieses Wartime-Experience-Erlebnistourismus, denn es war Mittag, und uns stand nach einem Sandwich. Dementsprechend wechsle ich hier einmal kurz das Genre in Richtung Gastrokritik:

Im ersten Pub, wo sie einem erklären, dass man für so eine Extravaganz besser einen Tisch buchen hätte sollen und die Küche jetzt unmöglich Brote bestreichen kann, weil sich für später ganz viele Gäste angesagt hätten, hatte das noch was Schrulliges. Wir wollten ja auch niemand stressen mit unserem zugegebenermaßen eigensüchtigen Bedürfnis nach Brot mit Einlage.

Nach der dritten oder vierten Auskunft dieser Art („Ein Sandwich? Das dauert aber ganz sicher mindestens 45 Minuten. Eine Stunde vielleicht.“) merkt man aber, dass da doch noch was anderes, Unsagbares im Busch ist.

Wir fanden dann übrigens ein Café, das um 14 Uhr schon Sperrstunde und somit keine Hemmungen hatte, seine letzten Vorräte loszuwerden. Das halb verdorrte, halb verschimmelte Trauben-Quintett auf einem harten, niedrigen Bett tellerfüllend ausgebreiteter, winziger gelber Salatblattschnipselchen ließ meinen „summer salad“ jedenfalls nach einem Hilfeschrei aus der Küche aussehen. Als ich dazu auch noch um Marinade bat, starrte mich die junge Belegschaft deutlich defensiv an. „Sie sehen doch, was hier los ist!“, kam ihnen die Chefin zu Hilfe.

Da hatte sie allerdings recht, ich begann endlich zu begreifen. Ich hatte ja gelesen von leeren Regalen in Supermärkten, hatte in sozialen Medien die Fotos davon gesehen, den Lebensmittelmangel bisher aber nie in der Praxis erlebt. Als verwöhntes Kind des Westens war mir die versteckte Scham hinter den Abweisungen nicht vertraut, hatte noch nie ein Lokal betreten, dem schlicht das Essen ausgegangen war.

Heilige Souveränität geht über Kläranlagen

Es spricht sich herum, langsam, dass das, was im Königinnenreich derzeit geschieht, nur sehr begrenzt mit Covid zu tun hat. Dass in anderen Ländern auch trotz Seuche noch Sandwiches bestrichen und befüllt werden. Und ja, hin und wieder taucht in der Analyse sogar schon wieder das verbotene B-Wort auf.

LKW-Fahrer*innen aus der EU können hier nämlich nicht mehr arbeiten, selbst wenn sie wollten (FT-Link eigentlich hinter Paywall, aber zumindest zeitweilig offen lesbar), weil sie dafür nach den neuen Post-Brxt-Regelungen zu wenig verdienen. Und es fehlen geschätzte 90- bis 100.000 davon, die jene Lebensmittel in die Supermärkte ausführen sollten. Daher auch die dringenden Warnungen seitens der großen Lebensmittelketten, dass die britischen Weihnachtsschmäuse dieser Saison ernsthaft gefährdet seien.

Dabei kommen die Lebensmittel wegen der immer länger verschobenen, Brxt-bedingten Einfuhr-Checks an der Inselgrenze eigentlich ja immer noch schneller ins Land als laut Abkommen vorgesehen.

Im Gegensatz zum Beispiel zu den importierten Blutfläschchen, die dem Gesundheitssystem mittlerweile ausgehen, was unter anderem bereits zu verschobenen Bluttests führt. Oder den Lebensmitteln, die aus dem eigenen Land kommen, sprich dem mangels Pflücker*innen aus EU-Ländern in den Feldern verrottenden Obst und Gemüse. Oder dem Käse, Rind-, Schweine- und Lammfleisch, der/das für den Export nach Europa bestimmt war und nun an der EU-Grenze festsitzt, wo sehr wohl nach Vorschrift kontrolliert wird. 2 Milliarden Pfund soll das die britische Lebensmittelindustrie bereits gekostet haben, aber auch darüber spricht man hier nicht. Genauso wie über die Sondererlaubnis für die privatisierte Abwasserentsorgung, aus Mangel an nötigen Chemikalien für die Kläranlagen ungereinigtes Abwasser in die Umwelt abzuleiten (Links zu Guardian-Artikeln betreffen mittlerweile ziemlich verlässlich Themen, die in BBC-Nachrichten nicht mehr vorkommen).

Alles offenbar legitime Opfer für die nationale Souveränität, die das Land durch Brxt errungen hat. Einfach unpatriotisch, wer sich darüber laut zu beschweren wagt.

Leeres Supermarktregal, wo Bananen sein sollten

Robert Rotifer

Mittlerweile bleiben auch in meinem örtlichen Supermarkt immer mehr Regale leer. Kenner*innen der ost/west-deutschen Geschichte wird die Ironie daran nicht entgehen, dass hier normalerweise Bananen, die Symbolfrüchte des westlichen Wohlstands, zu finden wären.

Es ist schon interessant, aus erster Reihe fußfrei einem Land, dessen Versorgungssicherheit eigentlich schon seit kolonialen Zeiten auf globalen Importen von Gütern und Arbeitskräften fußt, dabei zuzusehen, wie es sich von Xenophobie und einem quasi-religiösen Glauben an seinen nationalen Mythos der alleinstehenden Unbezwingbarkeit in die Selbstsabotage treiben lässt. Und wie lange sich das verleugnen lässt (die Pandemie bietet allerdings eine perfekte Cover-Story).

Für Leute, die unheilbar anglophil genug sind, diesen pathologischen Selbstbetrug verstehen zu lernen, empfehle ich die Lektüre von Peter Mitchells Buch „Imperial Nostalgia“, das eine*n die tiefe Verankerung der bereits zum Höhepunkt der imperialen Phase Großbritanniens im späten 19. Jahrhundert systematisch propagierten Sehnsucht nach einer verklärten nationalen Vergangenheit erkennen lässt.

Buch Imperial Nostalgia

Robert Rotifer

Zur weiteren Zerstreuung unserer aller Aufmerksamkeit hat die trotz Linksverkehr noch nie rechts überholte Innenministerin Priti Patel inzwischen übrigens angekündigt, künftig aus Frankreich über den Ärmelkanal kommende Flüchtlingsboote mittels Schiffen der Border Force zurück in französische Gewässer zu drängen. Und in Nachrichtensendungen wird, statt vor Scham über diesen menschlichen Totalbankrott zu vergehen, ganz ernsthaft darüber diskutiert, ob sich so eine Taktik nach internationalem Recht durchziehen ließe.

Um es mit Alanis Obomsawin zu sagen: Erst wenn das letzte Supermarktregal geleert ist und der letzte Strand in Gülle erstickt, werden sie sehen, dass man Exzeptionalismus nicht essen kann.

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