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Venedig Filmfestivalpalast

APA/AFP/Miguel MEDINA

Die Löwen zeigen Haltung

Die Vorzeichen waren ja nicht gerade die besten für das 78. Filmfestival von Venedig: Das zweite Corona-Jahr in Folge hat nicht nur die Filmindustrie massiv beeinträchtigt, auch alle größeren Get-Togethers sind nur eingeschränkt möglich. Aber es ist gelungen: Super Filme, super Atmosphäre, super Wetter – und ziemlich viele Stars. Die Löwen haben alle ein sehr gutes neues Zuhause gefunden – mit wenigen Ausnahmen.

von Gini Brenner, aus Venedig

Yes, it’s happening

Ok, kein Herumgerede mehr: Der Goldene Löwe für den besten Film ging heuer an Audrey Diwans „L’événement“. Eine mutige, großartige und logische Entscheidung der Jury unter „Parasite“-Regisseur Bong Joon-ho.

„L’événement“ (auf Deutsch „Das Ereignis“) ist die Verfilmung des autobiographischen Romans der französischen Schriftstellerin Annie Ernaux. Darin erzählt sie, wie sie sich im Abschlussjahr des Gymnasiums auf die Aufnahme auf die Universität vorbereitet – als erste ihrer Familie, die studieren geht. Doch dann wird sie von einem One-Night-Stand schwanger. Eine Katastrophe, damals, Ende der 1950er-Jahre: Für eine unverheiratete Teenager-Mutter gab es auf der Uni sicher keinen Platz. Und Abtreibungen waren bei Strafe verboten.

Regisseurin Audrey Diwan mit dem Goldenen Löwen

APA/AFP/Filippo MONTEFORTE

Audrey Diwan

Für Anne (grandios understated gespielt von Anamaria Vartolomei) trotzdem eine eindeutige Entscheidung: Der wachsende Zellhaufen, der ihr Leben zerstören würde, muss aus ihr raus. Regisseurin Diwan erzählt einfühlsam und dennoch drastisch von der Tortur, die Frauen damals auf sich nehmen mussten, wenn sie über ihr eigenes Leben entscheiden wollten – und zeigt, worum‘s geht. Ohne Voyeurismus, aber sehr, sehr ehrlich. Was spannend war: Während einige männliche Kollegen tatsächlich nachher sagten: „In dem Film ist doch gar nix passiert!?!“, ging‘s uns Journalistinnen wie Männern in jedem Film, in dem Penisse oder Hoden beschädigt werden. Nur dass es in diesem Fall echte, tausendfach erlebte Geschichte war. Die Geschichte unserer Großmütter, Urgroßmütter und all derer, die an verbotenen Abtreibungen gestorben sind.

Politics are life, art is politics

Eine politische Entscheidung der Jury? Natürlich! Aber warum soll das was Böses sein? Kunst hat, unter anderem, auch den Auftrag, relevant zu sein. „L’événement“ ist, und das war bei der Vorlaufzeit dieses Super-Low-Budget-Films so sehr gar nicht beabsichtigt, gerade jetzt unglaublich relevant. Und dazu ist es ein richtig guter Film, toll gespielt, stringent inszeniert und wirklich spannend. Und ein gutes Argument für Kino vs. Streaming: „L’événement“ funktioniert am besten ohne Ablenkung und ist kurz genug für keine Klopause.

Anyway. Andere Preise gab’s natürlich auch: Als beste Hauptdarstellerin wurde Penélope Cruz ausgezeichnet, für ihre Rolle als gequälte Mutter im Eröffnungsfilm „Madres paralelas“ von Pedro Almodóvar. Ja, war eh ok, aber der Film war eher meh, und eigentlich hätte die Coppa Volpi Olivia Colman gehört, für ihre unpackbar supere Performance in „The Lost Daughter“. Maggie Gyllenhaals großartiges Regiedebüt, die Verfilmung von Elena Ferrantes gleichnamigem Roman, bekam immerhin den Drehbuchpreis. Da hätte eigentlich mehr drin sein sollen, aber der große Preis der Jury war dann doch ein Heimspiel und ging an Paolo Sorrentino für seinen gruselig selbstreferentiellen „Era stato la mano di dio“. Was für Fellini-Fans halt. Nein, das ist kein Kompliment.

Regisseurin Maggie Gyllenhaal mit ihrem Löwen für das beste Drehbuch

APA/AFP/Filippo MONTEFORTE

Maggie Gyllenhaal

And everything else…

Über den Besten Männlichen Hauptdarsteller, John Arcilla für „On the Job: The Missing 8“ kann ich nichts sagen, den hab ich leider nicht gesehen – das Online-Reservierungssystem für Pressetickets ist zwar fair aber gnadenlos, wer zu spät einloggt, den bestraft das Leben. Mit dem Spezialpreis der Jury für Michelangelo Frammartinos „Il buco“ dagegen bin ich sehr einverstanden – und eigentlich auch mit dem Drehbuchpreis für Jane Campion. Vielleicht nur, weil ich ewiges Fangirl bin, aber „The Power of the Dog“ hatte, trotz recht enttäuschender Performances der Hauptdarsteller:innen Benedict Cumberbatch und Kirsten Dunst, echt seine Momente.

Filmstill aus "Mon père, le diable"

Ellie Foumbi

Mon père, le diable

Zum Schluss muss ich noch eine ganz große Lanze brechen für einen Film, der in einer obskuren Nebenschiene lief und daher für keinen der Preise in Frage kam: Ellie Foumbis Drama „Mon père, le diable“ ist ein wunderbarer, aufrüttelnder Film über ein brisantes Thema (die Traumata von ehemaligen afrikanischen Kindersoldaten). Cinematisch durchaus traditionell – genau wie der heurige Gewinnerfilm –, aber von der Art, wie er sein Thema behandelt, fast ein bissl groundbreaking. Wie bereits gesagt: Relevanz ist ein Feature, kein Bug.

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