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Lil Nas X und sein Debütalbum „Montero“

Auf seinem Debütalbum „Montero“ lässt uns Lil Nas X einen Blick hinter seine queere Internet-Persona erhaschen – und schafft damit ein Pop-Album mit Herz und Seele, ohne dabei auf den Troll-Anteil zu vergessen.

Von Melissa Erhardt

Lil Nas X-Releases sind jedes Mal wie ein kleines Happening: Es ist diese Art von Unberechenbarkeit, diese Vorfreude auf ein Spektakel, das sich immer wieder selbst zu übertreffen scheint. Was hat Montero Lamar Hill jetzt wohl wieder gemacht? Wen hat er jetzt wieder getrollt? Seine Kunst lebt von dieser Schock-Provokation auf der einen, und der Bewunderung und Vorbild-Funktion auf der anderen Seite: Ein Schwarzer, schwuler Popstar, der so offen mit seiner Sexualität umgeht, der mit einem fliederfarbenen Versace-Kleid bei den MTV Music Awards auftaucht oder in einem buntem Federkostüm gemeinsam mit Elton John Werbung für Uber Eats macht? Das hat es auf diese Weise noch nie gegeben. Diese Tatsache verpackt er in gut produzierten Popsongs mit eingängigen Hooks, legendären Videos und jeder Menge Meme-Content.

Vom Internet-Troll zum Musiker

Gerade deswegen ist es mir in den letzten Wochen aber mehr als schwergefallen, mir ein Lil Nas X-Album vorzustellen. Dieser Nicki Minaj-Stan, der 16 bis 18 Stunden pro Tag in den Tiefen des Internets abgehangen ist und dann, wie aus dem nichts, mit Cowboy-Stiefeln und einem 30-Dollar-YouTube-Beat voller Elan den Rekord für die meisten Wochen an der Spitze der Billboard-Charts gebrochen hat, dieser Lil Nas X soll jetzt ein ganzes Album releasen? (Wobei, wenn man es genau nimmt: So „out of the blue“ war sein Erfolg gar nicht. Er hatte schon öfter Songs auf Soundportal hochgeladen und diese – mit Memes verziert – getweetet, um mit ein bisschen Geschick und ganz viel Algorithmus-Glück einen viralen Hit zu landen. Mit „Old Town Road“ ist ihm das eben endlich gelungen). Wie soll ein Album von jemandem klingen, der seinen Erfolg bisher auf Singles aufgebaut hat, die als provokativ-augenzwinkerndes Kunstwerk einfach für sich stehen?

Die Vorstellung wurde zusätzlich noch erschwert, weil er mit der EP „7“, die er 2019 nachgeballert hat, einen oberflächlichen Versuch gestartet hat, den Erfolg weiter zu spinnen. Von Kritiker*innen wurde das Outcome regelrecht verrissen. Ein Auszug: “The EP ends up being a set of nothingness, like watching a Kylie Jenner vlog, content made for the sake of justifying its existence”. Kann ein Lil Nas X‘ Album – abgesehen von der grandiosen Promotion, die ungefähr alles übertrumpft das wir jemals gesehen haben – also einen Mehrwert für uns haben? Die Antwort ist: Ja, kann es, und wie. „Montero“, das Album macht das Internet-Phänomen „Lil Nas X“ endlich zu einem echten, greifbaren Menschen – mit Höhen und Tiefen.

Unangenehm und schmerzvoll

Lil Nas X will auf seinem Debüt bestimmte Dinge aus sich herauszuholen, „no matter how much it hurts or feels uncomfortable to say things”. Damit beginnt er bereits auf „Dead Right Now“, nach dem pompösen, Flamenco-inspirierten Opener „Montero“ der zweite Track des Albums. Unangenehm und schmerzvoll wird es hier zum Beispiel, wenn er irgendwo zwischen Trap-Flow, Trompeten-Samples und Gospel-Chor à la Kanye von seiner toxischen und distanzierten Beziehung zu seiner drogenabhängigen Mutter erzählt. Oder wenn er auf „Sun Goes Down“ über seine Kindheit berichtet, über seine inneren Konflikte und seine Unsicherheit, die er durch seine Homosexualität und sein Schwarz-Sein immer wieder verspürt hat:

„Since ten, I been feelin lonely / Had friends, but they was pickin‘ on me / Always thinkin‘, Why my lips so big? Was I too dark? Can they sense my fears? / These gay thoughts would always haunt me / I prayed God would take it from me /It’s hard when you’re fightin’ and nobody knows it when you’re silent”

Dass sein Vater, der auf das Outing seines Sohnes zuerst mit der Vermutung reagierte, dies sei eine „Versuchung des Teufels“, nun als Gospel-Sänger auf „Dead Right Now“ zu hören war, macht das ganze irgendwie noch heftiger.

Ein sowohl musikalischer als auch inhaltlicher Höhepunkt des Albums ist der Track „Void“. Darauf zeigt sich Montero Lamar Hill verletzlich wie nie zuvor: Es ist jemand, der nicht weiß, ob er dem Druck und der Schnelligkeit des täglichen Lebens standhalten kann und Angst hat, alleine zu enden oder gar zu scheitern. Es ist die Art, mit welchem Schmerz er das zugibt – er, den so viele als One Hit Wonder oder Reddit-Freak bezeichnet haben – die dem Song eine Tiefe geben, die man nirgends sonst auf dem Album findet: „I’m spendin‘ all them dark months of time / Trapped in the lonely, loner life / Lookin’ for love where I’m denied”.

Auf Montero macht sich Lil Nas X angreifbar, er zieht sich aus – und sorgt gleichzeitig dafür, dass tausende seiner Fans, die vielleicht gerade dasselbe durchmachen, relaten können. Sei es wegen ihrer sexuellen Orientierung, ihrer Hautfarbe oder anderen Gefühlen, die er auf seinem Debüt zum Ausdruck bringt. Das macht er mit Absicht, wie er im Breakfast-Club-Interview sagt: „You can have a bazillion hit songs, but when people actually know about your life, they can relate more. It hits a little bit different.”

Troll Pop vom Feinsten

Für alle, die bis hierher aber gedacht haben, „Montero“ wäre ein Trauerspiel: Das ist es auf keinen Fall. So schmerzvoll und verletzlich er sich auf den einen Songs zeigt, präsentiert er sich in anderen Nummern prahlerisch, vorlaut und selbstsicher. Natürlich bleibt Lil Nas X auch seinem „Troll-Pop-Game“ treu – den Hits also, die wie gemacht sind für Memefication und Tik-Tok-Challenges. Neben den bereits releasten Bangern „Industry Baby“ und „Montero“ wären da zusätzlich zum Beispiel die Tracks „Scoop“ oder „Dollar Sign Slime“, für die er sich mit Megan Thee Stallion und Doja Cat jeweils weibliche Rap-Unterstützung geholt hat.

Zu seinen Feature-Gästen auf „Montero“ zählen außerdem Miley Cyrus, Elton John und der Rapper Jack Harlow. Die Kritik, dass er keine männlichen Schwarzen Feature-Gäste auf seinem Album hat, konterte Lil Nas X damit, dass diese vielleicht nicht mit ihm zusammenarbeiten wollen würden – anspielend auf eine homophobe Haltung vieler männlicher (Rap-)Artists in der Musikindustrie. Daraufhin stellte sich Kid Cudi schützend hinter ihm:

“There’s a homophobic cloud over hip-hop, and he’s going to break that shit down. We have to stand with him. I’m going to do whatever I have to do to let him know - you have my support. When we do our song together, however trippy the video is, let’s get sexy with it."

Wer weiß – vielleicht gibt es also schon bald ein Montero Deluxe Album – bis dahin schafft er es vielleicht auch, sein großes Vorbild Nicki Minaj zu einem gemeinsamen Track zu überreden.

Selbstfindung zwischen Superstardom und Growing Up

Zwar ist das Album rein musikalisch gesehen sicherlich kein Meisterwerk. Sein Produzententeam, das unter anderem aus dem Duo Take-a-Daytrip (Juice Wrld, Sheck Wes), John Cunningham (Halsey, XXXTentacion), Omer Fedi (Kid Laroi, Justin Bieber) und gar Kanye West auf „Industry Baby“ besteht, setzt eher auf eine Mischung aus gut produzierten, aber gängigen Pop und Trap-Produktionen.

Trotzdem hat es Lil Nas X geschafft, sich mit seinem Debütalbum „Montero“ als Popstar mit Ecken und Kanten zu präsentieren. Er, der wahrscheinlich nie damit gerechnet hat, so durchzustarten und sich jetzt in dieser neuen Rolle zu positionieren versucht, lässt uns einen Blick hinter die Fassade des Internet-Phänomens erhaschen. Er will zeigen, dass er eben nicht nur ein „One Hit Wonder“, sondern eben auch ein ernstzunehmender Musiker ist. Vor allem will er sich das vermutlich selbst beweisen. Dass seine Stärke trotzdem die unberechenbaren Happenings bleiben, hat er mit seiner kurz vor dem Album gedroppten „Montero-Show“ einmal mehr bewiesen. Und was er für die queere Community alles gemacht hat, das ist sowieso unbeschreibbar.

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