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Alli Neumann

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„Madonna Whore Komplex“ ist ein Befreiungsschlag

Alli Neumann stellt gesellschaftliche Normen in Frage, befreit sich von Zwängen und Selbstzweifeln und besetzt bestehende Begriffe mit „Madonna Whore Komplex“, wie der provokant treffsichere Titel ihres Debütalbums lautet, neu. Vollkommen zu Recht wird Alli Neumann als Popsängerin als eine der größten Hoffnungen im deutschsprachigen Raum gehandelt.

Von Alica Ouschan

Funky Deutsch-Pop mit Soul- und Country-Einflüssen, Songs über Befreiung von gesellschaftlichen Normen und Zwängen, das alles vereint das Debütalbum der Künstlerin Alli Neumann. Die Musikerin hat seit 2018 insgesamt zwei EPs veröffentlicht und kann zudem Features mit deutschen alternativen Hip-Hop-Größen wie Nura, Trettman und KitschKrieg in ihrer Diskografie verzeichnen.

In ihrer eigenen Musik hat Alli Neumann mit Hip Hop und Rap eher weniger am Hut, dafür experimentiert sie mit verschiedenen Genres und hat sich auf ihren bisherigen Releases zwischen rauchigen Chansons, rockig-punkigem Austro-Pop, der nach Bilderbuch und Falco klingt, und tanzbarem Indie und Soul ausgetobt. Immer mit dabei waren quietschende Gitarren mit ordentlich Distorsion, Allis unverkennbare Stimme und ihre einfachen, aber unverblümten Texte.

Madonna Whore Komplex Cover

Four Music/JAGA Recordings

„Madonna Whore Komplex“ ist am 3. September bei Four Music/JAGA Recordings erschienen.

Mit Spannung erwartet

Mit ihrer kompromisslosen Attitude, ihrer musikalischen Vielseitigkeit und ihrem sympathischen Auftreten konnte sich Alli Neumann in den letzten drei Jahren nicht nur eine stabile Fanbase aufbauen, die gespannt auf ihren ersten Longplayer gewartet hat, sie wurde außerdem von vielen ihrer Kolleg*innen aus dem Musikkosmos sowie von deutschen Musikmedien als eine der großen Hoffnungen der deutschsprachigen Popmusik gehandelt.

Diesen Ruf verteidigt sie mit ihrer ersten Platte, „Madonna Whore Komplex“, mit Bravour, greift dafür tiefer denn je in die Themenkiste mit der Aufschrift „Emanzipation und Befreiung“ und wagt erneut Ausflüge in bisher ungeahnte Musikrichtungen. Was es mit dem Albumtitel auf sich hat und wo ihre musikalische Reise hinführt, erzählt Alli Neumann im FM4 Interview.

Vom Country- zum Funk-Album

„Es sollte eigentlich ein Country-Album werden“, erzählt Alli. „Ich bin großer Dolly-Parton-Fan und habe mich bisher aber nicht an die Musikrichtung getraut, weil es in meiner Wahrnehmung für sehr lange Zeit eine sehr verstaubte, konservative, weiße Musikrichtung war.“ Künstler wie Lil Nas X, die dieses Bild von Country in den letzten Jahren aufgebrochen und neu geprägt haben, inspirierten Alli schließlich dazu, sich an ein düsteres Country-Album zu wagen: „Dann kam aber der Lockdown und ich brauchte auf keinen Fall Beklemmung oder düstere Musik. Dann ist es irgendwie zu einem Funk-Album geworden, das viel tanzbarer ist als eigentlich erwartet.“

Überbleibsel der ursprünglichen Idee des Country-Albums sind auf „Madonna Whore Komplex“ aber noch vorhanden, sei es durch den außergewöhnlichen Einsatz von Banjos an manchen Stellen oder durch den, fürs Country-Songwriting typischen, autobiografischen, storytelling-mäßigen Schreibzugang, dessen sich Alli gerne bedient.

Obwohl gerade die tanzbaren, funky Nummern, hinter denen ordentlich Power steckt, eine ihrer großen Stärken sind, die Alli in den letzten Jahren oft unter Beweis gestellt hat, ist sie auf „Madonna Whore Komplex“ noch einen großen Schritt weitergegangen und hat sich genau wie Lil Nas X, vielleicht nicht unbedingt musikalisch, aber zumindest thematisch, ebenfalls daran gemacht, verstaubte Bilder aufzubrechen.

Alli Neumann

Clara Nebeling

Befreiung als „Entlernprozess“

Der provokante Titel „Madonna Whore Komplex“ bezieht sich auf eine freud’sche These, der zufolge alle Frauen in der männlichen Wahrnehmung in zwei Kategorien eingeteilt werden: Madonnen und Huren.

Alli möchte diese Begriffe neu besetzen: „Ich fand es spannend, das anders zu lesen und neu zu definieren, und zwar so, dass eine Frau gerade ein komplexes Wesen ist, das die Madonna und die Hure in sich vereint. Ich finde, wir alle sollten uns nicht von Systemen wie dem Patriarchat oder Rollenbildern einschränken lassen. Ich kann eine Geschäftsfrau sein und gleichzeitig die liebevollste Mutter. Eine Hausfrau sein und mich für Politik interessieren. Da gibt es keine Paradoxien.“

Die Idee für den Titel kam Alli, da sie sich selbst seit einiger Zeit in einer Phase der Selbstfindung befindet. Sie versucht, sich von Selbstzweifeln und gesellschaftlichen Normen und Zwängen zu befreien, denen sie sich in der Vergangenheit auch selbst unterworfen hatte: „Es ist ein Entlernprozess.“ Begonnen hat dieser Entlernprozess, als Alli an „Kleinigkeiten“ geschrieben hat, einem ruhigen, emotionalen, verletzlichen Song über eine toxische Beziehung, und bemerkt hat, dass das Selbstbild nicht zu jenem der „Powerfrau“ passte, das sie in ihrer Musik von sich selbst bis dahin gezeichnet hatte.

Auf „Madonna Whore Komplex“ verabschiedet sie sich von eindimensionalen Frauenbildern. Mit ihrer Musik schafft sie außerdem einen niederschwelligen Zugang zu komplexen feministischen Themen, ohne dabei oberflächlich oder belehrend zu sein. „Madonna Whore Komplex“ ist ein gelungenes Konzeptalbum, das Spaß beim Hören bringt, obwohl es ein Trennungsalbum ist: „Wie jede Trennung tut es natürlich auch erstmal weh, wenn man sich von seinen eigenen Zwängen und Zweifeln trennt, die einen klein halten. Auch wenn es unangenehm ist, sich damit auseinanderzusetzen und sich diese Eingeständnisse zu machen, wenn man diese Gedanken entlernt hat, wird’s richtig schön.“

Der einzige inhaltliche Kritik- und Knackpunkt - Achtung, jetzt wird’s meta! - ist die Tatsache, dass das Album zwar der Versuch ist, sich freizumachen vom Male Gaze, von patriarchalen Zwängen, von diversen, damit verbundenen Ismen und davon, den eigenen Selbstwert von Männern abhängig zu machen. Gleichzeitig scheint das aber nicht zu funktionieren, ohne andauernd über Männer zu reden und sie in den Mittelpunkt der Diskussion zu stellen.

„Ja, das ist halt schwierig“, gibt Alli zu. „Aber zum Patriarchat gehören beide Seiten. Ich hoffe eigentlich auch, dass Männer das Album hören und sich auch mit ihren eigenen Befreiungsprozessen auseinandersetzen können. Genauso wie uns als Frauen ein bestimmtes Rollenbild zugewiesen wird, wird ja auch Männern eines zugewiesen. Davon müssen sie sich genauso befreien.“ Das Album selbst soll auch keine endgültige Emanzipation sein, sondern ein erster musikalischer Befreiungsschlag, der Startschuss für einen andauernden Prozess.

Vielseitig und vielbeschäftigt

Alli Neumann ist eine wichtige Popstimme unserer Zeit und verausgabt sich nicht nur in ihrer eigenen Musik, sondern ist darüber hinaus Teil weiterer künstlerischer und aktivistischer Projekte. So hat sie bereits eine Woche nach dem Release ihres ersten Albums den Titeltrack für einen Kinofilm veröffentlicht. „mit dir“ ist der Song zum Film „Ein Nasser Hund“, basierend auf dem Buch „Ein nasser Hund ist besser als ein trockener Jude“ von Arye Sharuz Shalicar, das die Geschichte eines Jugendlichen mit iranisch-jüdischen Wurzeln in Berlin Wedding erzählt.

Allis unerschöpflicher Tatendrang ist natürlich auch der Tatsache geschuldet, dass sie eine leidenschaftliche Liveperformerin ist, die nichts lieber tut, als ihre Songs vor ihren Fans zu spielen: „Ich kann kaum erwarten, dass es endlich wieder richtig losgeht!“ Wenn alles klappt, kommt Alli Neumann im Rahmen ihrer Herbst- und Wintertour am 6. Dezember für ein Konzert nach Österreich, in die Grelle Forelle in Wien.

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