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Olaf Scholz (SPD, l-r), Annalena Baerbock (Bündnis90/Die Grünen) und Armin Laschet (CDU) stehen im Fernsehstudio.

APA/dpa-Pool/Michael Kappeler

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Deutschland-Wahl: „Die Generation unter 30 wird nicht gesehen“

Im Funk-Format „Kreuzverhör“ stellen sich deutsche Spitzenpolitiker*innen Fragen, die vor allem für junge Menschen unter 30 relevant sind. Wir haben mit Funk-Journalistin Victoria Reichelt über einen angriffslustigen Wahlkampf, eine gewissen Merkel-Melancholie auf Tik Tok und Negative Campaigning gesprochen.

Von Melissa Erhardt

Klima, Soziale Ungleichheit, Digitalisierung, Bildung und Außenpolitik: Das sind die Themen, die in Studien immer wieder aufkommen, wenn es darum geht, was junge Menschen politisch eigentlich interessiert. Diesen Themen haben sich deswegen auch Victoria Reichelt und ihre Kolleg*innen Nemi El-Hassan, Jan Schipmann und Mirko Drotschmann im Funk-Format „Kreuzverhör“ gewidmet.

In insgesamt sieben Folgen zu jeweils etwa 30 Minuten sprechen die vier Jungjournalist*innen vor den Bundestagswahlen am Sonntag, 26.9. mit Spitzenpolitiker*innen der großen Parteien (CDU, CSU, Bündnis 90/Die Grünen, SPD, FDP, AfD und Die Linke) über eben diese Themen. Zu Gast ist da unter anderem Gesundheitsminister Jens Spahn oder SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz. Das Ziel: Jungen Wähler*innen unter 30 die Wahlentscheidung etwas zu erleichtern. Wir haben Victoria Reichelt zum Online-Interview getroffen, wo wir mit ihr über ihre Sicht - als junge Politik-Journalistin, die hauptsächlich auf den Sozialen Medien unterwegs ist - auf die Bundestagswahl gesprochen haben.

Melissa Erhardt: Du hast für das Funk-Format „Kreuzverhör“ mit Spitzenkandidat*innen der einzelnen Parteien gesprochen. Was hat dich in den Gesprächen besonders überrascht?

Victoria Reichelt: Was mich total überrascht hat, ist, dass ein Großteil der Spitzenkandidat*innen - egal welcher Partei - nicht wusste, was ein sogenannter Boomer ist. Wir haben alle gefragt „Wer ist denn für Sie so ein richtig typischer Boomer in der Politik?“, und da waren die Antworten teilweise erst einmal „Was ist denn ein Boomer?“ Das klingt so banal, aber für mich zeigt das schon auf, dass die Spitzenpolitiker*innen teilweise sehr, sehr weit weg von der Lebensrealität junger Menschen sind.

Victoria Reichelt

Victoria Reichelt

Victoria Reichelt ist Journalistin und Moderation. Sie arbeitet hauptsächlich für das öffentlich-rechtliche Politikformat Deutschland3000.

Durch deine Arbeit bei Deutschland3000 und dem Kreuzverhör-Format bist bzw. warst du ja sehr in den Wahlkampf involviert. Wie hast du den Wahlkampf wahrgenommen?

Ich muss sagen, das Krasseste für mich ist, wie laut dieser Wahlkampf war und wie umfassend die ganze deutsche Gesellschaft sich damit beschäftigt. Ich habe das Gefühl, das politische Interesse ist bei der ganzen Gesellschaft irgendwie größer geworden und gleichzeitig ist der Wahlkampf aller Parteien viel lauter, viel angriffslustiger. Zum einen ist das natürlich, weil Angela Merkel nicht mehr kandidiert, dadurch ist es einfach eine sehr, sehr besondere deutsche Wahl. Was mich daran aber auch gleichzeitig gestört hat, ist, dass wir relativ wenig über Inhalte gesprochen haben, sondern uns sehr viel an den drei Persönlichkeiten und den Charakteren der Kanzlerkandidat*innen aufgehängt haben. Da hat mir, aber auch dieser jungen Community, mit der ich ja immer wieder Kontakt habe, eindeutig gefehlt, dass wir nicht mehr über Inhalte gesprochen haben.

Wenn du den Wahlkampf jetzt kurz vor der Wahl mit Juli oder August vergleichst, wo es gerade erst richtig los ging - was hat sich da für dich verändert? Gab es Ereignisse, die einen großen Einfluss gehabt haben auf den Wahlkampf?

Also zunächst, was ich schon gesagt habe, diese grobe Tendenz, dass irgendwie sehr viel über laute Kommunikation und vor allem auch über Negative Campaigning geht. Also gar nicht so sehr „Was hab ich als Partei für einen Inhalt?“ sondern „Wie kann ich die Inhalte der anderen Parteien oder auch die Personen der anderen Partei diffamieren?“ Das hat deutlich zugenommen über den ganzen Wahlkampf.

Und klar, es gab relativ zu Beginn diesen Skandal um Baerbock, diese Plagiatsaffäre, die sie deutlich Stimmen gekostet hat. Gleichzeitig gab es dann aber auch jetzt in den letzten Wochen den totalen Abwärtstrend für Laschet. Auch da haben sich die Stimmanteile nochmal total verschoben. Und ich glaube auch, dass die Trielle, die es in den letzten Wochen im TV gab, ganz richtungsweisend waren, in denen sich Olaf Scholz ja z.B. deutlich zurückgehalten hat, aber im Nachhinein oft als der Kompetenteste bewertet wurde, was man ja hier in Deutschland auch so ein bisschen damit begründet, dass er sich sehr „merkelig“ verhält, obwohl er ja von einer anderen Partei ist.

„Oh mein Gott, was sollen wir machen, wenn Mutti Merkel nicht mehr da ist?“

Du hast es vorhin schon erwähnt - dadurch, dass Angela Merkel nicht mehr antritt, ist die Wahl natürlich viel unvorhersehbarer als sonst. Viele deutsche Erstwähler*innen kennen ja auch nur Angela Merkel als deutsche Kanzlerin. Wie nimmst du die Stimmung unter jungen Menschen wahr? Gibt es da diesen Drang nach Veränderung? Oder ist mit Merkels Abgang auch ein Gefühl von Unsicherheit verbunden?

Das ist ganz lustig, weil ich vernehme beides. Ich vernehme zum einen von unter 30-Jährigen dieses Gerede von „So kann es nicht weitergehen, wir brauchen jetzt einen Wechsel“ aber gleichzeitig gibt es eine totale Merkel Melancholie. Auf Tik Tok gibt es zum Beispiel ganz viel Inhalt von sehr jungen Leuten, die sagen: „Oh mein Gott, was sollen wir machen, wenn Mutti Merkel nicht mehr da ist? Meine ganze Kindheit und Jugend konnte ich mich auf sie verlassen, was soll jetzt passieren?“ Das ist natürlich total geschönt und überzeichnet, weil auch an Merkels Amtszeit nicht alles rosig und toll war, das muss man auch gar nicht so verniedlichen. Aber gerade junge Leute gucken schon mit Angst in die Zukunft. Es gibt ja auch genug, wovor man sich jetzt sorgen kann. Und da war natürlich Angela Merkel, manchmal ein bisschen gefühlt die Mutter der Nation bzw. die Mutter dieser jungen Generation, schon irgendwie so ein Symbol von einem stabilen, entspannten Deutschland. Wenn man sich dann aber anguckt, wen Menschen unter 30 in Deutschland wählen, dann unterscheidet sich das ganz stark von den älteren Generationen. Also da gibt es gleichzeitig schon einen großen Drang nach Veränderung.

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Funk

Glaubst du, sind junge Menschen im Wahlkampf genügend beachtet worden?

Von dem, was ich so wahrgenommen habe, glaub ich das nicht. Das überrascht mich aber überhaupt nicht: Wenn man sich mal demografisch anguckt, wie Deutschland aufgestellt ist, dann gibt es 60,4 Millionen Wahlberechtigte dieses Jahr, davon sind 8,7 Millionen Wähler*innen unter 30. Im Gegensatz dazu sind aber 23 Millionen Wähler über 60. Das heißt, diese junge Generation, diese Generation unter 30, die ist zwar total politisiert und problematisiert ganz viel, aber sie wird gar nicht gesehen, weil ihre Stimme gar nicht so schwer ins Gewicht fällt. Und deswegen kann ich total verstehen, dass gerade Parteien, die vielleicht nicht unbedingt von einer jungen Wähler*innenschaft gewählt werden, ihre ganze Kampagne jetzt nicht um junge Menschen stricken, so verheerend das natürlich auch ist. Ich finde natürlich, dass junge Menschen und ihre Themen gesehen werden müssen - aber es überrascht mich gleichzeitig nicht, dass sie nicht Nummer eins im Wahlkampf waren.

Du machst auf verschiedenen sozialen Medien politischen Content, also Tik Tok, Instagram jetzt mit der Kreuzverhör-Reihe auch auf YouTube und Spotify. Gibt es einen Unterschied zwischen den einzelnen Plattformen?

Ich muss sagen auf YouTube und Tik Tok finde ich den Ton tatsächlich sehr rau mittlerweile. Da kriegt man manchmal auch echt Sachen an den Kopf geworfen, wo man sich denkt: Okay, das hätte ich jetzt vielleicht lieber nicht gelesen. Instagram ist so ein bisschen mehr die „Kuschel Plattform“, wo nicht ganz so hart geschossen wird. Das hängt aber auch mit den Demografien der einzelnen Social Networks zusammen, da gibt’s einfach gewisse Unterschiede, auch im Alter.

Aber vor allem wenn man sehr viele Leute mit seinen Inhalten erreichen möchte ist Tik Tok auf jeden Fall the way to go. In politisch wichtigen Zeiten ist das aber auch gefährlich, weil gerade auf Tik Tok die Desinformation ganz schlimm ist, jetzt zum Beispiel im Bundestagswahlkampf, und das auch von der Plattform selbst überhaupt nicht gut moderiert wird. Da kann eben jeder senden - was ja an sich auch gut ist, aber die Plattformen schaffen es oft nicht, diese Inhalte auch zu Fact-checken oder zu moderieren. Das ist natürlich gefährlich vor solchen Wahlen.

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