FM4-Logo

jetzt live:

Aktueller Musiktitel:

Cover/Bild Rolf

Christof Gähwiler/Elster & Salis AG

Buch

Den inneren Dämon exorzieren in „Rolf“ von Andri Hinnen

Was wenn dein innerer Dämon plötzlich auftaucht, dich verschluckt und die Kontrolle über dein Leben an sich reißt? Dieses dubiose Gedankenexperiment beantwortet der Schweizer Filmemacher Andri Hinnen in seinem ersten Roman.

Von Alica Ouschan

Nach einer ereignisreichen Festivalnacht hat Philipp plötzlich Halluzinationen. Als sich wenig später herausstellt, dass der Mitte dreißigjährige Durchschnittstyp mit Durchschnittsjob und Langzeitbeziehung gar nicht verrückt wird, sondern nur von einem ziemlich widerlichen Dämon besessen ist, ist Philipp alles andere als erleichtert. Der Dämon, der sich in den plump klingenden Namen „Rolf“, schlabbrige Tentakel und furchtbar schlechte Manieren kleidet, bringt das langweilige Leben des Normalo-Typen Philipp aus dem Gleichgewicht.

Einfach verschluckt

Philipp will das schleimige Ding so schnell es geht loswerden, dieses hat aber schon längst das Steuer an sich gerissen und brettert mit ihm ins Verderben. „Rolf“ ist ein selbstsüchtiger, hedonistischer Dämon, der Philipps Geld für teure Autos verprassen, kettenrauchen, im Fitnessstudio pumpen und jeden Tag eine andere Frau daten möchte. Obwohl Philipp alles daran setzt, seinen Dämon zu exorzieren, wird er von diesem schließlich verschluckt.

Cover/Bild Rolf

Christof Gähwiler/Elster & Salis AG

„Rolf“ hat 222 Seiten und ist im Züricher Verlag Elstar & Salis AG erschienen.

„Ich habe jetzt das Sagen! Vierunddreißig Jahre habe ich fast ausschließlich in deinem Scheißunbewusstsein verbracht. Vierundreißig gestohlene Jahre. Weißt du eigentlich, wie es in dir aussieht? Guantanamo ist ein Klacks dagegen. Abu Ghraib ein Boutique-Hotel. Das Hanoi ein Hilton." Er trat etwas näher an Philipp heran. „Und ich hab gedacht wir könnten Freunde sein. Jetzt ist’s in für alle Mal vorbei mit der Zweisamkeit", Rolf schaute ihm ein letztes Mal in die Augen und verschlang ihn zusammen mit einem großen Schluck Kaffee.

Geister der Vergangenheit

Andri Hinnen findet mit „Rolf“ einen überraschend humorvollen wie absurden Zugang zu einem unbequemen Thema, hat ein Gespür für klare Worte und entwirft zwei kontroverse Charaktere, die man beim Lesen bildlich vor sich sieht und abwechselnd liebt und hasst. Zusätzlich bringt er außerdem Nebenfiguren ins Spiel, die durchs Übertreiben ihrer Charaktereigenschaften erst richtig authentisch werden.

Obwohl die Erzählung in „Rolf“ an manchen Stellen droht, ins Alberne zu rutschen, ist die höchste Kunst des Buchs, Witz und Satire anzuwenden, ohne dabei psychische Krankheit und den Ernst der Lage ins Lächerliche zu ziehen. Die Dialoge entwickeln sich rasant und natürlich, das Buch selbst ist viel zu schnell zu Ende und lässt sich in einem Bissen verschlingen – wie auch der Dämon seinen Menschen in einem Bissen verschlingt.

Neben dem fast schon metaphorisch wirkenden tatsächlichen Kampf mit einem fleischgewordenen Dämon, dem Abwiegen von Realität und Einbildung sowie der erzwungenen Selbstreflektion, mit der Protagonist Philipp sich durch das Auftauchen seines Dämons konfrontiert sieht, schafft Andri Hinnen es darüber hinaus, die Themen von generationenübergreifend weitergegebenem Trauma und von Verletzungen des Unterbewusstseins subtil zu behandeln. Gleichzeitig findet er immer wieder aufs Neue die absurdesten Auswege aus dem Dilemma, in dem sich die Figuren befindet.

Alleine schon um den schleimigen Dämon mit Tentakelarmen nicht nur vor dem geistigen inneren Auge, sondern auch auf großer Leinwand zu sehen, wäre eine Verfilmung dieses Buchs grandios. Denn Andri Hinnen erschafft mit seiner Sprache nicht nur Bilder seiner Figuren, auch die Beschreibungen aus dem Inneren des Dämons, in dem sich Philipp unfreiwillig wiederfindet, hat trotz hohen Ekelfaktors durchaus ihren Charme. Der Filmemacher und Lehrbeauftragte an der Universität St. Gallen, der ursprünglich dort International Affairs, Strategie und Internationales Management studiert hat, überzeugt in seinem ersten Roman mit einem eigensinnigen Gefühl für Humor und hohem sprachlichen Wiedererkennungswert und lässt hoffen, dass er sich umgehend ans Verfilmen macht.

Ein Manifest für die Versöhnung mit inneren Dämonen

„Rolf“ erhebt keinen Anspruch darauf, medizinisch richtige Diagnosen zu stellen oder Ratgeber für die dort beschriebene Lebenslage zu sein. Andri Hinnen stellt die Frage, ob wir mit unseren inneren Dämonen koexistieren können. Wer sich dazu entscheidet, diese Frage auf Andri Hinnens Art zu beantworten, darf keine Angst davor haben, sich hin und wieder fremdzuschämen, und muss Realität und Wahrnehmung als flexibel betrachten. „Rolf“ ist eine literarische Grenzerfahrung und sicher nicht jedermenschs Sache. Andri Hinnen hat mit seinem ersten Roman jedenfalls ein außergewöhnliches Manifest geschrieben: Gegen den Kampf und für die Versöhnung mit unseren inneren Dämonen.

mehr Buch:

Aktuell: