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Seth Rogen in einer Szene aus "An American Pickle", altmodisch gekleidet auf einer Straße im heutigen New York, mit einem Leiterwagerl voll Gurken in Gläsern.

Point Grey Pictures

Empfehlungen für das Jüdische Filmfestival Wien

„Trotzdem!“ ist das Motto des Jüdischen Filmfestival Wien 2021, das am Sonntag beginnt. Im Filmprogramm begegnen uns die jüdische Widerstandskämpferin Fania Brantsovskaya, Vincent Cassel als Jugendbetreuer und Seth Rogen in einer Doppelrolle.

Von Maria Motter

„Shalom, Oida“ ist einer der Slogans, die das Jüdische Filmfestival Wien in seiner dreißigjährigen Geschichte ausgab. Jetzt, zum Jubiläum, lautet das Motto für die kommende Festivalausgabe von 3. bis 17. Oktober 2021 „Trotzdem!“.

„Die Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie haben mit erschreckender Deutlichkeit den latenten Antisemitismus in unserer Gesellschaft enttarnt“, schreibt das Team des Jüdischen Filmfestival Wien im neuen Programmkatalog. 51 Filme laden dazu ein, sich den Leben jüdischer „Normalbürger:innen“ heute - wie es im Katalog heißt - als auch während der Naziherrschaft und bis zurück in die Zeit während des Ersten und Zweiten Weltkriegs zu widmen.

Von österreichischen Klassikern wie „Gebürtig“ bis zur Europapremiere der schrullig-niedlichen Komödie „An American Pickle“ gibt es eine große Vielfalt an Geschichten zu erleben. Vom Portrait einer Widerstandskämpferin „Liza ruft!“ bis zum Traum, einen schwimmenden Eisbären zu fotografieren (in „Picture of his Life“), reicht das Programmspektrum. Hier kommen erste Empfehlungen für das Jüdische Filmfestival Wien 2021!

Jüdisches Filmfestival Wien,

3. bis 17. Oktober 2021, ganzes Programm: jfw.at.

Eine Partisanin in Wilna: „Liza ruft!“

Die ältere Dame ist so gut zu Fuß und schnell im Denken, das junge, deutsche Filmteam eilt ihr ab und an hinterher. Fania Brantsovskaya war neunzehn Jahre alt im Juli 1941, als die Wehrmacht in ihre Stadt, in Wilna (deutsch für Vilnius, die heutige Hauptstadt Litauens) einfiel. Mit ihrer Familie muss sie das Zuhause verlassen, wie alle jüdischen Bewohner*innen ihrer Straße kommt sie ins von den Nazis errichtete, kontrollierte und abgeriegelte Ghetto. Doch am Tag vor der gänzlichen Räumung des Ghettos gelingt ihr die Flucht in die Wälder. Die junge Frau, die schon zuvor Teil einer Widerstandsgruppe war, schließt sich Partisan*innen an.

Das alles berichtet sie dem Filmemacher Christian Carlsen. „Liza ruft!“ ist das erste Porträt einer jüdischen Partisanin überhaupt, sagt das Filmteam.

Die ältere Dame Fania Yocheles-Brantsovskaya geht eine Straße in Vilnius entlang. Aus der Dokumentation "Liza ruft!".

Kassiber Films

„Liza ruft!“ war die geheime Verständigung der jüdischen Widerstandsgruppe gegen die Nationalsozialist*innen, der sich Fania Brantsovskaya anschloss.

Das Großartige an „Liza ruft!“ ist, dass die Doku nicht allein Mahnrufe und Zeitzeugenberichte über das Terrorregime der Nationalsozialist*innen und die systematische Vernichtung jüdischen Lebens auf die Leinwand bringt, sondern sich für das Danach interessiert: Für die Jahrzehnte, in denen jüdisches Leben in Wilna klein gehalten worden ist. Für Jahrzehnte, in denen man es den Überlebenden schwergemacht hat und die ersten Gedenktafeln für die ermordeten jüdischen Menschen und für Widerstandskämpfer*innen zerstört wurden.

Im heutigen Litauen gibt es Tendenzen, die Geschichte umzuschreiben, ja gar zu leugnen. 2008 findet sich Fania Brantsovskaya selbst mit wüsten Anschuldigungen und einem Ermittlungsverfahren konfrontiert.

Wilna, der Fall Murer und Aufklärung im Kino

„Messieurs, mir scheint, wir sind in Jerusalem!“, soll Napoleon Bonaparte 1812 über Wilna gesagt haben. Das schreibt Johannes Sachslehner in seinem Buch „Rosen für den Mörder - Die zwei Leben des NS-Täters Franz Murer“. Und dieses Buch lohnt es sich, wieder oder überhaupt das erste Mal zu lesen, nachdem man „Liza ruft!“ angeschaut haben wird. Wilna hatte als „Jerusalem des Nordens“ gegolten, die osteuropäisch-jüdische Aufklärung hatte in der Stadt geblüht. Von den 200.000 Einwohner*innen waren etwa 75.000 Menschen jüdisch. Franz Murer, steirischer Lokalpolitiker und Großbauer, ist 1941 bis 1943 für das Ghetto von Vilnius verantwortlich gewesen. Der 2018 auf der Diagonale zum besten Spielfilm gekürte „Murer - Anatomie eines Prozesses“ zeigt auch das „Danach“, über den Umgang der Zweiten Republik mit den Nazi-Tätern und den Überlebenden.

„Das Dorf Ponary ist umgeben von dichten Wäldern, für die Bewohner von Wilna ist die Gegend vor dem Krieg ein beliebtes Ausflugsziel gewesen“, schreibt Sachslehner im Sachbuch „Rosen für den Mörder“. 1941 beginnen die Nationalsozialisten mit den Massenerschießungen im Wald von Ponary. Fania Brantsovskaya wird im Film „Liza ruft!“ über Geäst steigen und beim Mahnmal für die in Ponary ermordeten Jüd*innen noch zierlicher wirken.

„Wie die Fis trogn mir“, erklärt Fania Brantsovskaya. So lange sie ihre Füße tragen, wird sie kämpfen für ein jüdisches Leben in Wilna.

„Liza ruft!“ wird am Donnerstag, 7. Oktober, um 19.30 Uhr, im Village Cinemas Wien Mitte gezeigt. Nach dem Film gibt es ein Podiumsgespräch mit dem Regisseur Christian Carlsen und der Philosophin Katharina Lacina.

Neonazis retten? „Thou Shalt Not Hate“!

Riesenfragen um die Würde des Lebens, um Schuld und Sühne präsentieren sich im italienischen Spielfilm „Thou Shalt Not Hate“ mit einem Crash am Anfang und sie kriechen dann für die Laufzeit des Films so richtig in einen hinein. Soll man Neonazis denn retten?

Ein Chirurg - gespielt von Alessandro Gassmann - paddelt in einem Fluss vor sich hin, als er einen Autounfall hört. Kurz darauf beugt sich der Intensivmediziner über den schwerverletzten Autolenker, alarmiert die Rettung, bindet ihm das Bein ab, aus dem das Blut pumpt. Als er dem Mann das Hemd öffnet, prangt ihm ein tätowiertes, großes Hakenkreuz entgegen. Und der Arzt löst den blutungsstillenden Gürtel.

Ein Rechtsextremer ist selten alleine unterwegs und so wird der Chirurg, der aus Gewissensbissen die Nähe der Hinterbliebenen des Unfallopfers sucht, bald mit Hass konfrontiert. Regisseur Mauro Mancini gelingt gerade durch die Zurückhaltung der Hauptfigur eine unheimliche Spannung.

„Thou Shalt Not Hate“ läuft am 10.10. und am 15.10. beim Jüdischen Filmfestival Wien.

Alessandro Gassmann spielt einen Chirurgen, der zu einem Autounfall kommt und erste Hilfe leisten will, als er die Hakenkreuz-Tätowierung des Unfallopfers sieht. Szene aus "Non Oidare".

Movimento Film

„Non Odiare"/"Thou Shalt Not Hate“ kriecht so richtig in einen hinein. Alessandro Gasmann spielt einen Intensivmediziner und Sohn eines KZ-Überlebenden, der einem Neonazi die erste Hilfe verwehrt.

„Alles außer gewöhnlich“ mit Vincent Cassel

Eröffnen wird das Jüdische Filmfestival Wien kommenden Sonntag, 3.10., mit dem französischen Spielfilm „Alles außer gewöhnlich“ („Hors Normes“) mit Vincent Cassel als gläubigem Juden, der weit über seine Gemeinde hinaus die schwersten Fälle junger Menschen betreut.

Bruno (Vincent Cassel) und sein muslimischer Freund Malik (Reda Kateb) kümmern sich um autistische Kinder, schwer vernachlässigte Jugendliche und junge Erwachsene, die sonst nur zeitweise in Psychiatrien aufgenommen werden und von Betreuungseinrichtungen abgewiesen werden.

„Alles außer gewöhnlich“ basiert auf einer wahren Geschichte und überzeugt durch seine leise, realistische Erzählweise. Das Drehbuch stammt von den Autoren von Kinohits wie „Ziemlich beste Freunde“.

Vincent Cassel als Betreuer eines autistischen Jugendlichen in "Alles außer gewöhnlich".

Quad Films

Reda Kateb und Vincent Cassel in „Alles außer gewöhnlich“: Sie betreuen alle, mit denen die Psychiatrie nicht mehr weiter weiß.

An alle Menschen glauben

Ein Bub muss ständig einen Helm tragen, weil er seinen Kopf so oft gegen alles schlägt, was um ihn ist. Ein junger Erwachsener drückt bei jeder U-Bahn-Fahrt den Alarm für die Notbremsung und schaut stundenlang Reparaturvideos für Waschmaschinen. Seine Mutter bäckt Bruno Ananaskuchen und als sie ihn eines Abends ins Vertrauen zieht und vor Verzweiflung ausspricht, dass sie so sehr bangt, was aus dem Sohn wird, wenn sie einmal nicht mehr sein wird und dass sie am besten heute noch sich mit ihm umbringt, schnappt sich Bruno den Teller mit dem Kuchen und bleibt doch noch. Bloß haben Bruno und seine Kolleg*innen keinerlei offizielle Genehmigung für ihr Tun, sie werden aber ständig von Psychiatrien angerufen.

Weil Bruno und Malik auch noch am Arbeitsmarkt schwer vermittelbare junge Leute aus der Nachbarschaft zu Betreuer*innen einschulen, hat der Film auch humorvolle Seiten und insgesamt einen so schönen Zugang zu Menschen. „Alles außer gewöhnlich“ handelt vom Glauben an Menschen, an alle und besonders an jene, die nicht so funktionieren, wie das im gesamten sozialen Leben gewöhnlich erwartet wird.

Jugendliche schauen erstaunt bis entsetzt in "Alles außer gewöhnlich".

Quad Films

„Alles außer gewöhnlich“ eröffnet das Jüdische Filmfestival 2021 am 3. Oktober.

Bei der Eröffnung sprechen der Schauspieler Cornelius Obonya, der Präsident der „Aktion gegen Antisemitismus“ ist, und die Studentin Sashi Turkof, Co-Präsidentin der Jüdischen österreichischen Hochschüler:innen und „jünger als unser Festival“, wie das Jüdische Filmfestival die Rednerin ankündigt.

Schrullig: „An American Pickle“

Last, but not least, zeigt das Jüdische Filmfestival neun Komödien. Darunter die europäische Premiere von „An American Pickle“. Darin fällt ein jüdischer Einwanderer in New York in ein Fass mit Salzgurken, wird so konverviert und durch einen missglückten Drohnenflug einhundert Jahre später zum Leben erweckt und an die Oberfläche gespült. Fortan muss sich der Mann in der Gegenwart zurechtfinden. Doch nach dem Dornröschenschlaf in der Salzlake wartet keine Prinzessin auf ihn, sondern er kommt bei seinem Ururenkel in Brooklyn unter, einem App-Entwickler. Der hat ihm aber zu wenig für das Gedenken der Vorfahren über. Also zieht er Salzgurken verkaufend durch die Gassen. „An American Pickle“ ist schrullig-niedlicher Klamauk und gut, wenn man einmal eineinhalb Stunden sehr wenig denken will.

Seth Rogen einmal als Programmierer mit Baseballcap und als altvatrisch gekleiderter Ururopa in "An American Pickle".

Hopper Stone

Seth Rogen spielt einmal Herschel Greenbaum und dessen Ururenkel in „An American Pickle“

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