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Schweine im Stall

Borko Manigoda / Pixabay

ROBERT ROTIFER

Ein Specksandwich im moralischen Vakuum

Ein paar Gedanken zur Unfähigkeit des britischen Premierministers, zwischen der Schlachtung und der regelrechten Vernichtung von Schweinen zu unterscheiden.

Eine Kolumne von Robert Rotifer

Mir ist wohl bewusst, ich komme in meinen Geschichten hier über die politische Realität im Vereinigten Königinnenreich oft vom Hundertsten ins Tausendste. Weil hinter jeder Absurdität immer noch eine andere lauert. Aber manchmal passieren Dinge, die man berichten und für sich allein stehen lassen sollte.

Ein*e Politiker*in tut oder sagt etwas, das gefühlt mehr über sie oder ihn aussagt als das schlimmste Dossier über die tiefe Verstrickung einer Regierung und ihrer Partei in institutionelle Korruption.

So ein Moment kam, als ich neulich ein BBC-Interview mit Boris Johnson hörte, in dem er mit der Tatsache konfrontiert wurde, dass die britische Viehindustrie hunderttausende Tiere töten muss, weil es auf den Schlachthöfen an – bisher vor allem aus Osteuropa importiertem – Personal und Tierärzt*innen mangelt (was für euch und mich vielleicht nicht überraschend kommt, schließlich habe ich hier schon 2016 über das Buch „Brexit – What the hell happens now?“ geschrieben, in dem der Autor Ian Dunt genau dieses Problem als Teil eines drohenden Zukunftsszenarios vorhersagte).

Anstatt irgendeine Form von Bedauern über diese sinnlose Zerstörung von Leben zu äußern, ging Johnson in die Offensive und stellte seinen Interviewer als Deppen hin, der nicht wüsste, dass das Töten von Schweinen Teil der Viehwirtschaft sei. Sein absichtliches, zynisches Missverstehen des Problems schockierte und verfolgte mich.

Gleichzeitig dachte ich, dass Johnson dabei vielleicht irrtümlich mehr von jenem Zynismus preisgegeben hatte, als ihm und seinen Berater*innen recht sein könnte. Ein unpopulärer Ausritt in einer leidenschaftlichen (wenn auch darin sehr widersprüchlichen) Tierschützernation. Auf meiner Twitter-Timeline waren sich auch alle einig, das Interview sei ein völliger „car crash“ gewesen.

Dann aber spülte es heute morgen einen Tweet vom konservativen Parteitag herein, ursprünglich gepostet von Times Radio, einem relativ neuen, redaktionell mit der zu Rupert Murdochs „News Corp.“-Emporium gehörigen Tageszeitung The Times verbundenen, digitalen Radiosender. Darin sieht man einen Ausschnitt aus einem Interview des Politikchefs des Senders mit Johnson.

Tom Newton-Dunn, so heißt der Journalist, war lange Jahre Politikchef des ebenfalls zu Murdochs Konzern gehörenden Revolverblatts The Sun und als solcher verantwortlich für die unverblümt tendenziöse Pro-Brexit-, Anti-Labour-Linie der meistverkauften Zeitung des Landes. Er ist also, das sollte man vor dem Ansehen wissen, einer von Johnsons natürlichen Verbündeten.

twitter.com

31 Sekunden nach Beginn des Clips beginnt Johnson sich in seiner Antwort auf eine ausladende Frage von Newton-Dunn auf oben erwähntes BBC-Interview zu beziehen. Ich habe diese Passage für euch transkribiert und übersetzt:

Johnson: „Ich war vorgestern bei der BBC zu Gast bei einem Typen, der sich beschwerte, dass Schweine geschlachtet werden. Er sagte: ‚Hunderttausend Schweine werden sterben!‘ Und ich stand in der unglücklichen Pflicht, ihm zu erklären, dass das das ist, was mit Schweinen in diesem Land passiert.“

Tom Newton-Dunn: „Aber sie werden nicht gekeult. 100.000 Schweine werden nicht gekeult und verbrannt. Das scheint Sie nicht zu kümmern.“

Johnson (ein Lächeln beginnt sich auf seinem Gesicht abzuzeichnen): "Nun, ich fürchte, sie werden sehr oft gegessen in diesem Land. Ich weiß nicht, essen Sie manchmal ein Specksandwich?“

Tom Newton-Dunn: „Also Sie machen keinen Rückzieher davon, jede*n Schweinezüchter*in in diesem Land zu beleidigen?“

Johnson: „Wissen Sie, das ist das, was passiert. Schweinezüchter – meine Familie pflegte übrigens Schweine zu züchten – haben eine extreme...“

Tom Newton-Dunn: „Hat sie (die Familie, Anm.) sie jemals gekeult?“

Johnson: „Darf ich Ihnen das erklären, Tom? (Er sagt: ‚Can I break it to you, Tom‘ wie man es herablassend zu jemand sagt, der schwer von Begriff ist) Haben Sie je ein Specksandwich gegessen?“

Tom Newton-Dunn: „Wir kommen hier in die Gefilde von Ed Miliband...“ (Erklärung: Newton Dunns Zeitung The Sun veröffentlichte vor den Wahlen 2015 eine Titelstory darüber, dass der damalige Labour-Chef Ed Miliband sich beim öffentlichen Verzehr eines Specksandwich ungeschickt benommen habe, reichlich illustriert mit Meuchelfotos von Miliband beim Sandwich-Essen. Die These dahinter war, dass einer, der nicht wisse, wie man ein Specksandwich isst, auch nicht „einer von uns“ sein könne. Miliband ist säkularer Jude; die von Newton-Dunn lancierte Geschichte hatte also einen eindeutig antisemitischen Unterton. Sie wurde von Premierminister David Cameron und den Konservativen für den Rest des Wahlkampfs mit großem Enthusiasmus zitiert, um Miliband als abgehoben und suspekt „anders“ zu brandmarken.)

Johnson (jetzt aufgeregt, zeigt mit dem Finger auf Tom Newton-Dunn): „Nein, nein, weichen Sie nicht aus. Haben Sie je ein Specksandwich gegessen?“

Tom Newton-Dunn: „Ich will Ihnen zwei Fragen stellen...“

Johnson (dreht sich mit ungläubigem Gesichtsausdruck erst zu den im Off stehenden Zeug*innen des Interviews um, dann blickt er direkt in die Kamera, an uns Seher*innen appellierend, uns mit ihm zu verbünden, und fällt schließlich Newton-Dunn ins Wort): „Haben Sie je... Wie viele Specksandwiches haben Sie gegessen?“

Tom Newton-Dunn: „Mehrere.“

Johnson: „Okay, dann muss ich sagen: Als Sie die aßen, waren diese Schweine nicht am Leben...“

Ich sah und hörte das und spürte – trotz aller Abgebrühtheit, die ich mir selbst immer zuschreibe – eine Mischung aus tiefer Wut und Ekel, die weit über meine sonstige Abneigung gegen diesen Typen hinausging.

Es ist ja so: Ich bin weder vegan noch Vegetarier. Ich esse Fleisch, bemüht weniger als früher, aber ich esse es. Auch Schweinefleisch, im vollen Bewusstsein dessen, wie es erzeugt wird, und mit der zum Fleischverzehr gehörenden Verdrängung unangenehmer, schlechter Gefühle.

Ich bin Agnostiker und trotz großer Zuneigung zu Tieren keineswegs ein militanter Tierschützer. Aber ich habe immerhin einen gewissen Sinn dafür, was es bedeutet, ein Tierleben für die Ernährung von Menschen zu opfern. Und dass es dieser Zweck, also das Tier als sprichwörtliches Lebensmittel ist, mit dem Fleischesser*innen wie ich die tödliche Seite der Viehhaltung gegenüber uns selbst als Kompliz*innen rechtfertigen.

Johnson dagegen, der neulich erst katholisch heiratete, scheint überhaupt kein Problem damit zu haben, einen Überschuss von Gottes Kreaturen einfach so aus logistischen Gründen umzubringen.

Er scheint den Unterschied nicht zu erkennen zwischen einer Schlachtung zum Zweck der Erzeugung von Nahrung und der bloßen Vernichtung eines Tiers.

Und das erinnert mich auch daran, dass Johnson in seiner Universitätszeit in Oxford – neben David Cameron – Teil des berüchtigten (von Lone Scherfig und Laura Wade 2014 im Film The Riot Club realitätsnah, angeblich sogar untertrieben dargestellten), elitären Studentenvereins namens Bullingdon Club war, dessen junge Mitglieder aus aristokratischen Familien sich unter anderem mit dem orgiastischen Verwüsten von Lokalen vergnügen.

Vor meinem geistigen Auge sehe ich Johnson und Co. zum Spaß genießbares Essen an die Wand werfen und dem entsetzten Wirt erklären, dass er sich doch nicht aufregen solle, weil man den Schaden ja bezahlen würde.

Mir wird wieder bewusst, dass Boris Johnson so sozialisiert ist. In einer verrohten, eigentlich psychopathischen Welt der Privilegien, die Empathie, wenn überhaupt, nur ihresgleichen gönnt.

Und mir ekelt nicht nur vor der Vorstellung, dass ein Mensch in sich ein solch spirituelles und moralisches Vakuum trägt.

Johnsons unschuldiger Blick in die Kamera löst noch etwas anderes in mir aus.

Seine Sicherheit, dass jeder normale Mensch mit ihm übereinstimmt. Sein Vertrauen, dass er hier etwas völlig Einsichtiges sagt.

Es ist Angst. Er macht mir ehrlich Angst.

Und ich kann mir nicht vorstellen, dass es nur mir dabei so geht.

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