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Tirzah will es uns auf „Colourgrade“ nicht zu einfach machen

2018 hat Tirzahs mit ihrem Debüt-Album „Devotion“ einen ziemlich überraschenden Erfolg gefeiert: Ihr roher und intimer R’n’B-Entwurf mit elektronischen Einflüssen und viel DIY-Charakter hat einen Nerv getroffen. Drei Jahre später ist der Nachfolger „Colourgrade“ da.

Von Melissa Erhardt

Wer die britische Musikerin Tirzah auf ihrem Debütalbum „Devotion“ kennen und vielleicht auch lieben gelernt hat, kennt sie vor allem als eine unkonventionelle Musikerin. Von Genre-Grenzen scheint sie nicht viel zu halten: Viel eher ist Musik für sie eine Art, ihren intimsten Gedanken und Gefühlen freien Lauf zu lassen. Dass sie dafür Anleihen aus R’n’B, elektronischer Musik und Soul verwendet, passiert nebenbei.

Ihre Musik ist nicht glatt poliert, sie ist roh und hat einen starken DIY-Charakter – so als wäre sie gerade erst im kleinem Kämmerchen neben dem Schlafzimmer entstanden, in dem man kaum stehen kann. Die Produktionen weichen oft von einem vorhersehbaren, konventionellen Weg ab: Die Instrumentals krachen im Hintergrund in sich zusammen, Stimmen und Instrumente werden verzerrt und Harmonien durchbrochen. Zuständig dafür ist seit der ersten EP aus dem Jahr 2013 Produzent*in Mica Levi aka Mikachu, ein*e Kindheitsfreund*in von Tirzah. Die beiden haben sich schon als Kinder in der Purcell School for Young Musicians in Hertfordshire kennengelernt, wo Tirzah eigentlich Keltische Harfe gelernt hat. Dort begannen die beiden, Musik zu machen: Mica bastelte die Beats und Tirzah sang dazu.

Colourgrade artwork

Domino Recording Company

Tirzahs zweites Album „Colourgrade“ ist am 1. Oktober bei Domino erschienen.

Aber wer Tirzah von ihrem Debüt kennt, weiß, dass wir uns zumindest an ihrer zarten Stimme und ihren klaren Worten festhalten können, während im Hintergrund Chaos herrscht. Auf „Colourgrade“ ist das ein bisschen anders.

Außer Kraft gesetzte Harmonien

„Colorgrade“ ist nach der Geburt von Tirzahs ersten Kindes und vor der Geburt ihres zweiten Babys entstanden. Es gab also eine „menschliche Deadline“, die die Albumproduktion im Trio mit Produzent*in Mica Levi und dem Londoner Musiker Coby Sey auf wenige Monate intensiviert hat. Mit dieser neuen Rolle als Mutter versucht sich Tirzah auf „Colourgrade“ zurecht zu finden: So schreibt sie mit „Crepuscular Rays“ und „Sleeping“ rauschende Schlaflieder oder denkt auf „Recipe“ über ihre Verantwortung gegenüber ihrem Baby nach:

„I will give you
Every memory
Every dream
Every recipe and security”

Ganz so einfach wie auf ihrem Debüt “Devotion“ - einer Ansammlung von Liebesliedern, die über die Jahre entstanden sind und sowohl von eigenen Beziehungen als auch Beziehungen, die sie von außen beobachtet hatte, handelten - will sie es uns auf „Colourgrade“ aber nicht mehr machen.

Schon auf dem gleichnamigen Intro klingt Tirzah gewagter. Ihre Stimme ist durch die Verzerrung kaum erkennbar und wir hören ein unheimliches Pfeifen, während sie zugibt: „Little do I care for this“, bevor sie die Aussage mit einem „More and more I’d die for this“ wieder relativiert. Diesen Stil führt sie in „Tectonic“ weiter.

Sie lässt zu, dass wir uns unwohl fühlen – und holt uns da auch mit ihrer Stimme nicht mehr raus. Steht die Tektonik in der Architektur eigentlich für das Zusammenfügen von Einzelteilen zu einem harmonischen Ganzen, setzt Tirzah genau diese Harmonie außer Kraft. Wie wir das interpretieren, bleibt uns selbst überlassen, wie sie in einem Interview mit NPR sagt:

„I really love that it takes on its own life once it has left the confines of the file box. It’s out of our hands. I might be feeling something, and it might not be how someone else perceives it. So, it doesn’t really matter how I intended it to be read. It’s in the hands of anyone that happens to listen to it. And that way, it means something different to everyone, which I think is how it should be, really."

Unruhe weicht Zuversicht

Nach und nach wird die Stimmung auf „Colourgrade“ aber lockerer – ein bisschen so, als ob Angst und Wut auf einmal Zuversicht weichen würden und das zerstückelte Selbst wieder zu einem vollkommenen Ganzen findet. „Gonna love myself, gonna trust again, Gonna show them that I’m okay“, singt Tirzah dann etwa auf „Sink In“, einer nostalgisch-warmen Nummer mit schlagenden Percussions und einem weichen Keyboard. Eine kleine Achterbahnfahrt der Gefühle also – aber das will Tirzah auch irgendwie erreichen:

„If it makes you feel anything at all, then that’s pretty magic, I think. I can’t really ask for any more than that.”

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