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Diskriminierung von mehrgewichtigen Menschen ist im Gesundheitswesen Alltag

Der Besuch bei Ärzt*innen ist für viele kein großes Ding - für mehrgewichtige Menschen ist das aber eine stressige, oftmals auch erniedrigende Angelegenheit. Und das hat verheerende Auswirkungen.

Von Livia Praun

Timur ist Student und beschreibt sich selber auf seinem Instagram-Kanal @timurs.time als „fett, queer & psychisch krank“. Und über genau diese Themen klärt Timur auf seinem Kanal auf. Dementsprechend ist auch Fettfeindlichkeit etwas, das er online und auch im echten Leben erlebt - etwa auch, wenn er zum Arzt muss. „Wenn ich jetzt was mit dem Rücken hätte, würde ich mir zwei Mal überlegen, ob ich zur Ärztin gehe, oder nicht“, erzählt er, „Einfach, weil ich genau weiß, sie sagt es ist das Gewicht, ohne Hand anzulegen.“

Über diese vorurteilsbehaftete Behandlung weiß auch die Sozialforscherin Nicole Schaffer gut Bescheid - sie hat 2018 zum Thema „Diskriminierung übergewichtiger/adipöser Personen im Gesundheitsbereich“ an einer Literaturrecherche und qualitativen Interviews mit Betroffenen mitgearbeitet. Die Ergebnisse sind eindeutig - die Autorinnen fanden international zahlreiche Belege für Gewichtsdiskriminierung. So wurde etwa in einer Betroffenenbefragung aus Deutschland „das Gesundheitssystem besonders häufig als Ort der Diskriminierung genannt, wo hochgewichtige Menschen mit massiven Vorurteilen, negativen Stereotypen und Ungleichbehandlungen konfrontiert werden.“ Die Ergebnisse der Literaturrecherche wurden in den Interviews mit Betroffenen bestätigt, sagt Nicole Schaffer.

Die Ungleichbehandlung passiert auf mehreren Ebenen - einerseits werden die gesundheitlichen Probleme von mehrgewichtigen Menschen häufig allein auf das Gewicht zurückgeführt. „Es gibt anscheinend ein Raster, das das Hochgewicht so in den Fokus stellt, dass alles andere dem untergeordnet wird“, erzählt Nicole Schaffer. „Es kam so zum Beispiel zu Diagnosen, bevor die Laborwerte überhaupt da waren.“ Zudem werden ihnen stereotypische Eigenschaften zugeschrieben - faul oder unsportlich, um nur ein paar zu nennen.

Andererseits sind auch die Räumlichkeiten, das Equipment und die Instrumente im Gesundheitsbereich häufig nicht für mehrgewichtige Menschen ausgestattet: Stühle und Liegen sind zu klein, Nadeln nicht lange genug, Manschetten zu eng. Aber auch, wie mit mehrgewichtigen Patient*innen umgegangen wird, ist problematisch: „Von Beleidigungen, Beschimpfungen, Zurschaustellung - Diese diskriminierende Kommunikation ist so in den Alltag eingeschrieben, dass dann viele auf den Ärzt*innenbesuch verzichten", sagt Nicole Schaffer.

Insgesamt hat diese Diskriminierung im Gesundheitswesen für mehrgewichtige Personen mehrere verheerende Folgen. Sie bleiben Ärzt*innen fern, ertragen und ignorieren Beschwerden und bekommen Diagnosen - wenn überhaupt - stark verspätet. All das ist nicht nur verletzend und belastend für sie, es führt auch dazu, dass Erkrankungen unerkannt bleiben. „Ich habe viele Freundinnen mit Uterus, bei denen ewig lange nicht Endometriose diagnostiziert wurde, einfach weil es immer auf das Hochgewicht geschoben wurde“, erzählt Timur.

Auf Instagram hat die Userin @vivileinchenli dazu einige Erfahrungsberichte gesammelt: von Krebs oder Autoimmunerkrankungen, die lange Zeit nicht erkannt wurden bis zu einem Arzt, der nach einem Blick Diabetes festgestellt haben wollte.

Das sind keine Einzelfälle, wissen Nicole Schaffer und Timur. Beide sprechen von einem strukturellen Problem - Fettfeindlichkeit ist in der Gesellschaft weit verbreitet, und somit ist das auch im Gesundheitswesen der Fall. Öffentliches Bewusstsein für diese Diskriminierungsform ist aber kaum vorhanden: „Wenn ich jetzt zu einer anderen dicken Person sagen würde: ‚Hey, bei Ärzten is es immer so scheiße‘, dann wüsste die gleich, was gemeint ist.", erzählt Timur, "Aber wenn ich jetzt mit Personen rede, die nicht mehrgewichtig sind, erwarte ich ein skeptisches Nachfragen. Die sind sich dessen selten bewusst.“

Einen Grund dafür sieht Nicole Schaffer darin, dass Fettfeindlichkeit in der Gesellschaft nicht nur weit verbreitet ist, sondern auch akzeptiert wird. Mehrgewichtige Menschen werden zudem auch für ihr Diskriminierungsmerkmal selbst verantwortlich gemacht, erklärt Schaffer. Einem Menschen im Rollstuhl würde man nicht so die Schuld dafür geben, „wie man es bei Menschen mit Hochgewicht tut, die macht man immer für ihr Hochgewicht selbst verantwortlich, ohne die Hintergründe zu wissen.“

Das mache es schwierig, die Problematik in Gesellschaft und Politik zu thematisieren. Trotzdem gibt es Handlungsempfehlungen wie die Reduktion des öffentlichen Gewichtsstigmas, Sensibilisierung und Schulung von Ärzt*innen oder auch eine adäquate Ausstattung.

Es gibt auch Versuche, das Problem anzupacken. So etwa von dem Wiener Büro für Frauengesundheit und Gesundheitsziele unter der Leitung von Kristina Hametner. Sie haben die Recherche von Nicole Schaffer in Auftrag gegeben und sind dahinter, in dem Bereich etwas zu bewirken. Wegen der Pandemie ist das Vorhaben aber ins Stocken geraten: „In den Krankenhäusern waren keine Ressourcen für unser Projekt frei, (...) auch eine geplante Präsentation bei der Konferenz in Berlin „Armut und Gesundheit“ hat nicht stattgefunden. Leider, denn aus unserer Sicht ist ein wesentlicher Teil der Arbeit auch, das Thema bekannt zu machen“, schreibt sie in einer Stellungnahme zum momentanen Stand.

Trotzdem konnten vereinzelt Veranstaltungen stattfinden: Die Ergebnisse wurden etwa auf einer Fortbildungsveranstaltung der Wiener Ärztekammer vorgestellt und diskutiert, und nun wird zum zweiten Mal ein Workshop für Pflegekräfte zu der Thematik veranstaltet. „Sobald die Pandemiesituation beim Gesundheitspersonal wieder mehr Ressourcen frei gibt, werden wir uns dem Thema wieder stärker widmen“, schreibt sie. Das ist nötig, damit gesundheitliche Chancengerechtigkeit für alle möglich wird.

Was damit gemeint ist, bringt Timur auf den Punkt:

„Wenn ich bei Ärzt*innen bin, darf mein Gewicht auch durchaus ein Thema sein, aber bitte nicht nur mein Gewicht. Ich möchte eine anständige Behandlung haben, und dann möchte ich erfahren, was Ursachen sein könnten. Natürlich könnte mein Gewicht Ursache sein, das möchte ich gar nicht bestreiten, aber ich möchte, dass das mit Gewissheit gesagt werden kann.“

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