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Joy Crookes

Insanity Records / Carlota Guerrero

Das spektakuläre Debüt von Joy Crookes ist da

Mit 14 Jahren hat Joy Crookes ihr erstes Video auf YouTube hochgeladen: Ein Cover des Percy Mayfield-Klassikers „Hit the Road Jack“. Acht Jahre und drei EPs später ist nun ihr souliges und scharfsinniges Debütalbum „Skin“ draußen. Damit lässt sie die Amy Winehouse-Vergleiche endlich hinter sich und etabliert sich als unentbehrliche Größe des UK-Pops.

Von Melissa Erhardt

Als Joy Crookes wenige Tage vor Albumrelease ein letztes Promo-Video zu „Skin“ auf Instagram postet, setzt sie hohe Ansprüche: Das Album sei ein autobiografisches Werk von Songs, die sie im Alter von 15 bis 22 Jahren geschrieben habe, die Themen reichen von Mental Health über Politik und Beziehungen bis hin zu ihrer Familie und Identität. „This Is the proudest work I have made to date“, schreibt sie. Puh. All diese Themen in ein radiotaugliches Pop-Album zu quetschen, ohne dabei an Scharfsinnigkeit und poetischer Eleganz zu verlieren und das Ganze zu reinem Box-Ticking verkommen zu lassen? Ein schweres Unterfangen. Aber besser als Joy Crookes hätte es wohl niemand machen können. Mit „Skin“ ist der 23-jährigen Britin ein kleines Meisterwerk gelungen.

Hoffnungsvolle Stimme aus dem postmigrantischen London

Auf 13 Songs präsentiert uns Joy Crookes souligen Pop, der uns mit seinem warmen und nostalgischen Klang zurück in die 60er und 70er katapultiert, während wir lyrisch im Hier und Jetzt sind: Im (post-)migrantischen Süden Londons, wo Joy Crookes als Tochter einer bangladeschisch-bengalischen Mutter und eines irischen Vaters aufgewachsen ist, umgeben von Familien aus Nigeria, Barbados oder Bangladesch. Diese Identität verhandelt sie seit ihrer ersten EP „Influence“ aus dem Jahr 2017 in ihrer Musik: „Wenn wir alle unsere Sachen packen und nach Indien, Yorkshire oder sonst wohin zurückkehren würden, wüssten sie nicht, was sie tun sollen. Es wäre nicht mehr London“, sagt sie Anfang 2020 in einem Interview mit der BBC, als sie gerade mit dem vierten Platz in der BBC Sound of 2020-Prognose ausgezeichnet wird.

Crookes reiht sich damit neben Künstlerinnen wie Arlo Parks, Jorja Smith, Cleo Sol oder Greentea Peng in eine neue Pop-Generation aus Großbritannien ein. Sie formieren sich als eine Art künstlerische Gegenbewegung zu den politischen Entwicklungen eines Landes, die derzeit nicht passender durch fehlende Arbeitskräfte, leere Supermarktregale und einem panikmachenden Benzinmangel symbolisiert werden könnten.

Ihre postmigrantische Identität verhandelt Joy Crookes nicht nur in ihren Videos (beispielsweise zu „Feet Don’t Fail Me Now“, wo sie in einem weißen Sari ein Wheelie mit dem Motorrad macht), sondern auch musikalisch. Etwa auf „19th Floor“ – einer fast filmischen Nummer mit gewaltiger Instrumentierung (der Song wurde mit einem 18-köpfigen Streicher-Ensemble in den berühmten Abbey Road Studios in London aufgenommen), in der der „19. Stock“ als Metapher dient: Sie soll deutlich machen, wie weit es der migrantische Teil ihrer Familie mütterlicherseits geschafft hat – womöglich mit Joy Crookes selbst an der Spitze der Errungenschaften. Gleichzeitig spricht sie auf dem Song generationenübergreifende Traumata an, wenn sie etwa singt:

„I see the things you’ve seen / But you don’t speak, you leave the traces / Like I picked up a parcel handed down / through generations“

"Skin" Album-Cover

Insanity Records

Joy Crookes Debütalbum „Skin“ ist am 15. Oktober bei Insanity Records erschienen.

Aus einer ähnlichen Perspektive, nur ein Stück weit schonungsloser und direkter ist der Song „Kingdom“. Geschrieben unmittelbar nachdem die konservativen Tories mit Boris Johnson an der Spitze die Wahl zum britischen Unterhaus 2019 gewonnen haben, beschreibt Crookes darin einen herzlosen und offenkundig xenophoben Politikstil, der „zerkleinert und spaltet“ und direkte Auswirkungen auf das Leben vieler Menschen - beispielsweise ihrer Nachbarn - hat. Crookes dazu:

„Es herrschte eine verdammt starke Unruhe in London und ich war unglücklich und stinksauer. Die erste Zeile handelt genau davon, was passiert ist: ‚Rolling up to vote, I took my Benson / England’s blowing smoke, it needs attention / Could use a lick of paint, a change of colour / Before they send us back across the water‘. Im Grunde ist es also ein Fuck You Song an Priti Patel, Boris Johnson, Sajid Javid, Rishi Sunak, fuckin all of them (lacht).“

The Beauty in Sadness

Aber ihr Album nur auf diese „singuläre Form“ von Identität zu beschränken, würde Joy Crookes nicht gerecht werden. Viel mehr beschäftigt sich die Musikerin mit unserer Freiheit, Dinge anzusprechen und auszusprechen – egal ob es dabei um Politik, Casual Sex oder um unsere mentale Gesundheit geht. So eröffnet sie das Album mit der Line: „You wanted my body, not my mind”, um dann in der Hook klar zu machen: „I don’t mind if you don’t mind / But if you should see a future / Where I’m with you / You’ve got to go”.

Was passieren kann, wenn Ausgesprochenes nicht gehört oder absichtlich ignoriert wird - oder wenn es erst gar nicht zu einem an- oder aussprechen kommt - zeigt sie auf dem Track „Unlearn You“, dessen Hook aus einer simplen, aber umso mächtigeren Zeile besteht: „Can I cross you out and unlearn you from my body?“

„Viele Leute denken, dass der Song von einer Trennung handelt, aber in Wirklichkeit geht es um meine Erfahrungen mit sexuellem Missbrauch. Es fühlte sich nur richtig an, die Phrase ‚Unlearn you from my body‘ in diesem Zusammenhang zu verwenden. Es fällt mir wirklich schwer, darüber zu sprechen. Deshalb war ich während des Lockdowns wirklich stolz auf mich, dass ich einen Song über diesen Scheiß schreiben konnte.“

Der Schmerz als ein alles dominierendes Gefühl spielt in Joy Crookes Musik von Anfang an eine bedeutende Rolle. Schon ihr erster Song, den sie im Alter von 12 Jahren auf einem Grillfest in München performt hatte (“frag nicht, es ist albern”), handelte von Wolken als Symbol einer Depression: „Wenn sie da sind, bist du deprimiert und wenn sie weg sind, ist auch deine Depression fort“, erzählt sie, halb-lachend, halb-ernst.

Auf „Skin“ kommt dieser Schmerz auf dem gleichnamigen Track besonders stark zur Geltung.

Crookes hat ihn für eine nahestehende Person geschrieben, die mit Suizidgedanken zu kämpfen hatte. Das Einzige, was sie tun konnte, erzählt sie, war diese Person wissen zu lassen, dass sie mehr wert ist als ihr Gehirn ihr manchmal zu glauben gibt, „that their life is worth living“. Damit will sie auch anderen Zuversicht und Hoffnung geben, die mit ähnlichen inneren Dämonen zu kämpfen haben. Außerdem gäbe es auch eine gewisse Schönheit inmitten der Traurigkeit:

„Wenn man so eine schwierige Situation durchmacht, dann unterstreicht das die schönen Momente umso mehr - weil man ein Tief erlebt hat und der einzige Weg nach oben führt. Wenn man dann also oben ist, versteht man die Wucht des Aufstiegs, weil man ja das Tief erlebt hat - so klischeehaft das auch ist. Ich glaube deshalb versuche ich immer, Schmerz mit Schönheit zu verbinden.“

Theek Ache

Mit „Skin“ hat Joy Crookes auf jeden Fall ein großartiges Debüt und mit Sicherheit eines der besten Alben dieses Jahres geschaffen. Und damit wir das Ganze auch irgendwie verdauen können, hat sie sich für das Outro was ganz besonderes überlegt.

„Der letzte Song heißt Theek Ache, was auf Bangla, meiner Muttersprache, ‚es ist okay‘ bedeutet. Ich dachte einfach, bei all der Schwere des Albums würde ich gerne über Zigaretten, kaputte Kitten Heels und Matratzen-Surfen sprechen und mir dabei sagen: Ich mache eben Fehler - und das ist absolut in Ordnung. Theek Ache.“

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