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Bass Rock Panoramabild

CC0 by Karora

Buch

Ein Porträt männlicher Gewalt

Rund um die Felseninsel „Bass Rock“ in Schottland passieren schreckliche Dinge: Männer unterdrücken, manipulieren und misshandeln Frauen. Mit den Geschichten von drei Frauen aus unterschiedlichen Jahrhunderten zeigt Evie Wyld, dass Gewalt gegen Frauen kein individuelles, sondern ein strukturelles Problem ist.

Von Livia Praun

Viviane lebt in der Gegenwart und ist eine chaotische Londonerin, die weder ihren Alltag noch ihren Alkoholkonsum wirklich im Griff hat. Ihre Verwandten schicken sie nach Schottland, um dort das Haus der verstorbenen Stief-Oma beim Bass Rock auszumisten. Aber eher weniger, weil sie sie unbedingt dort brauchen, sondern eher, damit sie was zu tun hat.

Ruth ist die verstorbene Stief-Oma von Viviane. Sie zieht kurz nach dem zweiten Weltkrieg mit ihrem Ehemann und ihren zwei Kindern in eine schottische Kleinstadt am Bass Rock, einer kleinen Felsinsel vor Schottland. Ruth fällt es schwer, sich hier einzugewöhnen – und entdeckt schon bald warum: Hier ist nämlich einiges faul.

Cover von "Die Frauen"

rowohlt Verlag

„Die Frauen“ ist mit 512 Seiten im Rowohlt Verlag erschienen. Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Tanja Handels.

Sarah ist eine junge Frau und lebt vermutlich im 18. Jahrhundert. Sie ist auf sich alleine gestellt und wird missbraucht, als ein Mann und sein Sohn sie vermeintlich retten. Sie fliehen vor dem Dorf, in dem sie in Ungnade gefallen sind, doch auch auf dieser Reise kann sie der Gewalt nicht entkommen.

Drei Jahrhunderte, drei Frauen: Ihre Geschichten spielen sich rund um den Bass Rock ab. Anfänglich wirkt der Roman an einigen Stellen romantisch, die Charaktere und Beziehungen verkorkst, aber doch auch schön. Aber was außer dem Ort, verbindet die Schicksale der drei Frauen? Schnell wird klar - es ist männliche Gewalt. Dieser Roman ist ein Gothic-Novel, mit der Zeit verwandeln sich beinahe alle Männer in Gewalttäter.

Zwischen den Erzählungen der drei Protagonistinnen finden sich auch immer wieder kurze Geschichten über Gewalttaten von Männern an Frauen, die für sich alleine stehen und an den Rest der Handlung nicht anknüpfen. Es wird gezeigt, wie Männer immer und immer wieder Frauen misshandeln, bis hin zum Umbringen. Evie Wyld erzählt hier zum Beispiel die Geschichte einer Frau, die mit ihrem Mann im Krankenhaus ist und ihr Kind bekommt. Eigentlich ein schöner Moment. Nicht so in diesem Roman:

„Wegen der Infektion musste sie mit ihrem Kind einige Tage im Krankenhaus bleiben, aber er hatte einen Auftrag, der nicht warten konnte. Als sie sich beschwerte, dass er sie so allein ließ, brach er ihr den Finger.“

So nüchtern und brutal erzählt sie von der Gewalt, die Frauen erfahren. Die Ehefrau beschwert sich, der Ehemann bricht ihr den Finger - das ist noch ein harmloses Beispiel für das, was diesem Buch passiert.

Diese vielen brutalen Momente werden aber nicht ausgeschlachtet - es geht eher darum, den Leser*innen bewusst zu machen, dass Gewalt gegen Frauen keine Einzelfälle, keine individuellen Probleme sind, sondern ein strukturelles Problem. Und auch die Mechanismen sichtbar zu machen, wie Frauen für alles, was ihnen widerfährt, die Schuld gegeben wird. Ob bei Schlägen, Vergewaltigung oder Mord - à la ‚hätten die Frauen sich nicht danebenbenommen, wäre das alles nie passiert‘. Selten werden die Männer in dem Buch für das, was sie tun, zu Verantwortung gezogen.

Oft wird bei Berichten von sexuellem Missbrauch und häuslicher Gewalt erwidert, dass die Betroffenen sich selber in diese Situation gebracht haben. Außerdem hätten sie einfach gehen oder die Polizei rufen können. Evie Wyld entgegnet dem und schafft es, die lähmende Schockstarre von Opfern zu beschreiben:

„Warum sind wir einfach sitzen geblieben? Wir wussten doch, dass etwas Schlimmes bevorsteht. Wir hätten die Notruftaste drücken können, die Polizei alarmieren können. Aber wir haben einfach gewartet, für den Fall, dass wir doch falsch liegen.“

In „Die Frauen“ geschieht aber nicht nur den weiblichen Charakteren Unrecht, auch männliche Charaktere leiden unter den gesellschaftlichen Normen. So zum Beispiel die beiden Söhne von Ruth, die in ihrer Jugend im Internat von ihrem Direktor misshandelt werden. Der Ehemann von Ruth normalisiert die Schwierigkeiten der Kinder im Internat, und als Ruth die Kinder aus dem Internat nehmen will, entgegnet er ihr:

„Meinst du, ich hätte es in der Schule leicht gehabt, ich wüsste nicht, wie schwer es ist, Internatszögling zu sein? Auf keinen Fall lasse ich sie hier, (...) dass sie womöglich noch Schwuchteln werden, die Aquarelle malen und Muscheln sammeln. Die Welt ist voller Gewalt, und meine Aufgabe als ihr Vater ist es, sie darauf vorzubereiten.“

Besser, sie werden im Internat misshandelt, als dass sie verweichlichen. Die beiden Jungen brechen aber aus diesem Muster aus und werden zu liebevollen, sanften Männern. Evie Wyld zeigt so, dass es natürlich Männer gibt, die sich diesem gefährlichen Männlichkeitsbild entziehen, das aber nichts daran ändert, dass es noch immer existiert und auch heute noch präsent ist.

Evie Wyld wechselt geschickt zwischen den verschiedenen Erzählsträngen und verknüpft diese auch. Ihre Charaktere haben Tiefe, allen voran natürlich die drei Protagonistinnen Ruth, Sarah und Viviane. Aber auch die gewalttätigen Männer aus ihren Leben sind vielseitig gezeichnet, auch sie sind zuneigungsvoll, warm und hilfsbereit. Evie Wyld zeigt damit, dass nicht nur besonders bösartige Männer unterdrückerisch und gewalttätig werden können. Sie treibt die Handlung spannend voran und zeigt dabei schonungslos die ungleichen Machtverhältnisse zwischen Mann und Frau auf, und auch, dass diese heute noch existieren.

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