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Gedenkstein und Kerzen für die Opfer des Terroranschlags in Wien

APA/ROLAND SCHLAGER

interview

„Der erste Jahrestag ist der schwierigste“

Traumaexpertin Brigitte Lueger-Schuster im Interview über die Folgen traumatischer Erlebnisse und den Terroranschlag von Wien.

Von Paul Pant

Zum Jahrestag des Terroranschlags in der Wiener Innenstadt sind noch immer viele Fragen offen und viele psychische Wunden nicht verheilt. Betroffene des Anschlags beklagen, dass sie in der Folge mehr Unterstützung gebraucht hätten und brauchen. Nach anhaltender Kritik hat die Bundesregierung vor knapp einem Monat einen Entschädigungsfonds (2,2 Millionen Euro) eingerichtet, um zumindest finanzielle Schäden und Kosten des Anschlags abzufedern. Bei Bedarf kann der Betrag noch erhöht werden. Bisher gab es laut Sozialministerium 48 Anträge. Die Abwicklung übernimmt die Opferhilfeeinrichtung „Weißer Ring“.

Wie sich die Folgen des Terroranschlags auf psychischer Seite bei vielen Betroffene zeigen, erklärt Traumaexpertin Brigitte Lueger-Schuster von der Uni Wien. Sie sagt, dass es oft noch immer ein Tabu ist, in der Gesellschaft traumatisiert zu sein und unter Trauma-Folgen zu leiden.

Gedenkstein und Kerzen für die Opfer des Terroranschlags in Wien

APA/HELMUT FOHRINGER

FM4: Wie erleben Menschen, die von dem Terrorschlag direkt betroffen waren, so einen Jahrestag?

Brigitte Lueger-Schuster: Der erste Jahrestag ist der schwierigste. Das weiß man aus vielen Forschungen und ich auch aus der eigenen Erfahrung von früherer praktischer Tätigkeit. Es wirbelt wieder schlimme Erinnerungen auf, die sich vielleicht ein Stück beruhigt hatten.

FM4: Was können da Symptome sein?

Sich eingeschlossen fühlen und sich wieder verfolgt fühlen. Es kann sein, dass man wieder Schweißausbrüche hat, wenn man daran denkt. Dass das Herz wieder stark zu klopfen beginnt. Und es kann sein, dass die Erinnerungen an damals sich sehr intensiv aufdrängen, wenn man nicht in der Zeit nach dem Anschlag versucht hat, in psychologische Behandlung zu gehen, die auch wirklich für diese Form von Traumatisierungen speziell entwickelt worden ist. Das heißt, der Tag kann für viele sehr hart werden. Für Menschen, die direkt betroffen waren und natürlich auch für die trauernden Hinterbliebenen, weil es eben der allererste Jahrestag ist.

FM4: Wenn man von so einem Ereignis traumatisiert wird, was bedeutet das eigentlich?

Starke Traumatisierungen haben zur Folge, dass man von einem Erinnerungs-Druck überfallen wird, der recht heftig ist, weil es körperlichen Reaktionen der Angst wieder auslöst. Gleichzeitig versucht man das zu vermeiden, was natürlich kaum geht, weil man immer wieder von diesen Erinnerungs-Attacken überfallen wird. Das heißt, es kann gut sein, dass Betroffene sich ebenso fühlen, als wären sie in dem Raum, wo sie sich in Sicherheit gebracht hätten. Das Betroffene sich wieder so fühlen, als würden sie gerade auf der Flucht sein. Und das macht bitter und ängstlich.

FM4: Verändert sich dieser Erinnerungsdruck mit der Zeit?

Nach einem Jahr kommt vielleicht auch noch dazu, dass es einem unangenehm ist, dass man es noch immer nicht überwunden hat, weil es eben auch ein Tabu ist, in der Gesellschaft traumatisiert zu sein und unter Trauma-Folgen zu leiden. Menschen, die jetzt unter spezifischen Problemen aufgrund des Attentats leiden, fangen auch an sich zu schämen, weil sie es nicht geschafft haben, damit gut zurecht zu kommen. Da ist sehr wichtig zu sagen, das ist völlig unangemessen und überhaupt nicht notwendig, weil es eben so etwas Außerordentliches war, was man da erlebt und durchlitten hat. Und von daher ist es einfach gut, diese Scham abzulegen und wirklich Hilfe zu holen.

Der Terroranschlag am 2. Nov. 2020

Der 20-jährige Kujtim F., ein österreichischer Islamist mit nordmadzedonischen Wurzeln, startet seinen Anschlag gegen 20 Uhr im Bereich des Bermudadreiecks in der Wiener Innenstadt. Er schießt wahllos auf Menschen. In neun Minuten ermordet er vier Menschen und verletzt 23 weitere zum Teil schwer. Der Attentäter wird von Beamten der Spezialeinheit WEGA erschossen. Als gesichert gilt bisher, dass der Täter alleine gehandelt hat. Allerdings soll es im Vorfeld UnterstützerInnen gegeben haben. Sieben Personen sind aktuell in U-Haft, gegen insgesamt 30 Personen wird ermittelt. Ebenfalls ermittelt wird wegen Behörden-Fehlern im Vorfeld des Attentats. Durch Schlamperei sollen Chancen verpasst worden sein, wie man den Anschlag verhindern hätte können.

FM4: Wenn man so etwas bemerkt, bei jemanden in seinem Umfeld, wie kann man das ansprechen?

Ich denke, es ist gut, wenn man als Angehörige einfühlsam begleitet, auch fragt, wie geht’s dir heute? Kann ich was tun? Was kann ich tun? Ich bin für dich da. Diese Signale zu geben und vielleicht doch in ein kleines Gespräch zu kommen. Nur für das Gespräch gilt immer: Nur bis dorthin, wo die betroffene Person sagt, das ist mir zu viel, um niemanden zu überfordern. Aber ansprechen kann man es jedenfalls, weil es schon ein Akt der Solidarität ist und das vermittelt soziale Geborgenheit und Zugehörigkeit.

Für die Hinterbliebenen, wo ja insbesondere Trauer im Vordergrund steht, denn die waren nicht in der dramatischen Situation, kann man eigentlich das Gleiche sagen. Beistand leisten, vielleicht auch ein Stück weit ansprechen, aber immer nur so weit gehen in diesem Ansprechen, wie die betroffenen Hinterbliebenen das auch erlauben. Und ich denke, es ist gut, dass es zum Jahrestag eine öffentliche Zeremonie gibt, um den Hinterbliebenen und Opfern ein stückweit gesellschaftliche Aufmerksamkeit zu geben und zu gedenken.

FM4: Von Betroffenen des Anschlags wurde mir berichtet, dass es ihnen danach eigentlich schnell wieder besser ging und erst Wochen und Monate später die Symptome auftraten, die sie beschrieben haben. Warum ist das so?

Das ist ein sehr bekanntes Phänomen und heißt Posttraumatische Belastungsstörung. Nach jedem ganz schlimmen Erlebnis, wo es wirklich um Todesnähe geht und um Todesangst, kommt fast bei allen Menschen zunächst ein Prozess in Gang, bei dem man sich denkt: Ich habe es überlebt. Es ist alles in Ordnung. Ich habe vielleicht schlecht geschlafen und ein paar üble Träume, aber es geht weiter. Ich bin wieder in Ordnung. Und je länger das vorbei ist, desto mehr kommen dann diese Symptome wieder ans Tageslicht, die man ursprünglich hatte, nämlich das Gefühl, ich bin noch in der Situation.

Traumaexpertin Birgit Lueger-Schuster

Universität Wien

Brigitte Lueger-Schuster ist Professorin am Institut für Klinische und Gesundheitspsychologie der Universität Wien. Sie ist zudem Leiterin der Arbeitsgruppe Psychotraumatologie. Ihre Forschungsschwerpunkten sind Psychosoziale Folgen von traumatischem Stress, Bewältigungsstrategien, Resilienz, Komplexes Trauma, Komplexe PTSD, Beurteilung von traumabedingten Störungen sowie Menschenrechtsverletzungen.

FM4: Tritt das bei jedem Menschen auf, der Todesnähe erlebt hat?

Diese Dinge kommen verstärkt bei rund 30 Prozent der Betroffenen vor. Also so, dass wir sagen, das ist jetzt wirklich eine posttraumatische Belastungsstörung. Deswegen fangen wir frühestens vier Wochen nach dem schlimmen Ereignis an zu diagnostizieren. Weil man eben wartet, ob sie die Erholung von dieser Situation natürlich einstellt oder eben nicht. Junge Menschen haben üblicherweise ein kleineres Risiko. Und man kann sagen, je mehr man dieser bizarren Situation ausgesetzt war, desto höher ist das Risiko, dass man doch längerfristig sehr stark betroffen ist.

Hilfe via Telefon

  • Notfallpsychologischer Dienst Österreich, 24-Stunden-Hotline: +43 699 188 554 00
  • Opfernotruf, 24-Stunden-Hotline: +43 800 112 112
  • Kriseninterventionszentrum: +43 1 4069595

FM4: Wie behandelt man eine posttraumatische Belastungsstörung?

Es gibt gute Möglichkeiten, auf psychologisch, psychiatrischen Ebene zu behandeln, mit Trauma-fokussierter Psychotherapie. Methoden, die wir auch in Österreich haben, um das langsam wieder unter Kontrolle zu bringen und diesen Erinnerungsdruck, der so furchtbar ist, wieder zu beruhigen.

FM4: Wie lange dauert so eine Behandlung in der Regel?

Wenn die richtigen Methoden angewandt werden, ein Trauma-fokussiertes, psychotherapeutisches Verfahren, dann geht es relativ schnell. Das hängt natürlich davon ab, wie stark die Belastung ist, wie stark die psychische Störung sich ausdrückt. Aber man kann rechnen, dass in drei bis sechs Monaten eigentlich die Symptome soweit unter Kontrolle sein sollten, dass man auch wieder Lebensfreude hat. Und dass man sich vor allem erinnern kann, vielleicht unterlegt mit einem Anflug von Trauer, aber dass man sich erinnern kann, und dass es einem trotzdem gut geht.

FM4: Was wird bei so einer Therapie gemacht?

Man lernt in diesen therapeutischen Verfahren, wenn eine Erinnerung kommt, ein Alpdruck kommt, was man machen kann. Da gibt es gute Möglichkeiten, die Menschen einfach für sich anwenden können. Das Aufsuchen von theoretisch fundierter Psychotherapie ist übrigens ein Zeichen von Stärke und nicht von Schwäche, weil es nichts damit zu tun hat, dass man jetzt plötzlich verrückt geworden ist, sondern weil man etwas erlebt hat, das außerhalb des Erfahrungshorizont geschehen ist.

FM4: Sie haben Alpdruck gesagt. Was bedeutet das?

Das ist eben dieser alptraumhafte Erinnerungs-Druck. Der die Betroffenen befällt und ihnen das Gefühl gibt, man ist genau wieder in der Situation. Das kann ein Geräusch auslösen, das kann ein bestimmter Geruch auslösen, das kann ein Blick in irgendetwas hinein auslösen. Wir nennen das Trigger, also Auslöser. Reize, die uns wieder in die Situation zurückkehren lassen und das wird von vielen albtraumhaft erlebt. Ein Trigger kann ein Mensch sein, der vielleicht ähnlich ausschaut oder auch gar nicht, aber den gleichen Blick hat. Oder wenn beispielsweise ein Fenster zuknallt und man glaubt, das ist der erste Schuss und man fühlt sich so, als wären man wieder mitten in dieser Situation. Das ist sehr unterschiedlich und bei jedem anders.

FM4: In der Gesellschaft gibt es immer noch die Meinung, dass wenn man psychologische Hilfe annimmt, dass es ein Zeichen von Schwäche ist. Warum hält sich dieses Vorurteil so stark?

Eine Psychische Erkrankung hat den Nachteil, dass man sie nicht sieht, wie eine Grippe, oder eine Blinddarmentzündung. Man ist energielos oder sehr getrieben. Man kann sich nicht konzentrieren, man kann nicht schlafen, man nimmt vielleicht ab oder zu. Das sind die Symptome, die man sieht. Oft sagt dann das Umfeld: Reiß dich doch zusammen. Komm in die Gänge. Na, mach doch wieder. Das gut gemeinte Zureden. Oder auch Kritik: Was führst du dich denn so auf? Und das deckt natürlich zu, dass es eine Erkrankung ist.

Und dann muss man sagen, dass die Primärversorgung in der Regel bei den Hausärzten liegt. Die Expertise zu psychischen Erkrankungen ist da nicht ausreichend gegeben. Es sind Allgemeinmediziner, die können das wunderbar. Aber sie sind halt keine psychologisch oder psychotherapeutisch ausgebildeten Experten und Expertinnen.

FM4: Wie findet man Trauma-SpezialistInnen? Einfach googlen?

Google kann schon helfen, wenn man die richtigen Worte eingibt, nämlich Trauma-fokussierte Psychotherapie in Österreich, dann kommt man zu den Psychotherapeuten und Psychologinnen, die das wirklich gelernt haben. Eine andere Möglichkeit ist, man ruft beim psychosozialen Dienst, oder beim Krisenintervention Zentrum an, also überall dort, wo Expertise ist. Wovor ich ein Stück weit abraten würde, wäre zum nächsten Psychotherapeuten, zur nächsten Psychotherapeutin gehen, wenn man nicht vorher erfragt hat, was ist das für eine Ausbildung? Hat jemand eine Fortbildung in Trauma-spezifische Psychotherapie gemacht? Das ist in dem aktuellen Fall wirklich wichtig.

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