800 Meter Augenzeugenbericht
Von Maria Motter
Erst bemerkt man einige Wörter auf dem Gehsteig. „Dort war ein Scheiterhaufen“ steht in der Grazer Radetzkystraße in schwarzen, am Boden aufgemalten Lettern. „Vampir, Blutsauger“ sticht in der kurzen Rosenkranzgasse ins Auge, in die einen der Schriftzug führt. Und vor dem Zebrastreifen auf der Radetzkybrücke liest man „meinen Bart“ und „riss mir die Hälfte der rechten Seite unter furchtbaren Schmerzen aus“ nach dem Zebra. Egal, welche Wörter einem zuerst auffallen und an welcher Stelle man zu lesen beginnt: Fortlaufend erfasst man den Text und begreift, dass hier ein Rabbiner die Gewalt schildert, die Nationalsozialisten ihm am 9. November 1938 antaten. Direkt und einfach erschütternd ist das Dokument. Binnen weniger Minuten öffnet es die Augen.
Dieser „Lauftext“ mit dem Augenzeugenbericht erstreckt sich über 800 Meter in Graz. Catrin Bolt macht Kunst, auf die man hineinfallen kann. Das sagt die gebürtige Friesacherin über ihre Arbeiten im öffentlichen Raum. Ohne große Erklärung konfrontiert sie Menschen im Alltag mit Geschichte und Geschichten. Für den „Lauftext“ wählte sie einen Auszug aus den Lebenserinnerungen David Herzogs, dem letzten Rabbiner in Graz vor der Shoa.
Hintergrund zum Novemberpogrom 1938
In Deutschland trieben die Nazis seit der „Machtergreifung“ Hitlers 1933 den Antisemitismus systematisch voran. Als 1938 ein 17-jähriger polnischer Jude namens Herschel Grynszpan in der deutschen Botschaft in Paris einen deutschen Diplomaten erschießt, nehmen die Nazis die Tat als Vorwand, um das Novemberpogrom umzusetzen: Anders als von den Nazis behauptet, war der Pogrom - die Hetzjagd auf Jüdinnen und Juden - geplant und abgesprochen.
Maria Motter
1938 über die Grazer Radetzkybrücke hinweg gefoltert
Aus Herzogs Wohnhaus in der Radetzkystraße 8 bis zum Griesplatz in Graz zerrten und malträtierten Nazis den Rabbiner, erpressten und verschleppten ihn 1938. Der Text ist eine eindrückliche Erinnerung und eine unmittelbare Warnung, Hass gegen Juden und Jüdinnen vehement entgegenzutreten. Die Anzahl antisemitischer Übergriffe hat sich 2021 im Vergleich zum Vorjahr mehr als verdoppelt, hält die Israelitische Kultusgemeinde Wien fest: Bei der Meldestelle der Gemeinde sind 562 Vorfälle im ersten Halbjahr dieses Jahres registriert worden.
„Wir kamen zur Murbrücke, da wollten mich 3 der Kerle in den Fluss werfen, aber 2 Frauen, die sich den brennenden Tempel anschauen wollten, schrien, ihr werdet doch den alten Mann nicht im Winter in das Wasser werfen“, kann man auf dem Gehsteig vor dem Bezirksgericht Graz-Ost lesen.
Maria Motter
Der jüdische Schriftgelehrte David Herzog war bei der Machtübernahme der Nationalsozialist*innen 69 Jahre alt. Er hatte an der Karl-Franzens-Universität gelehrt und war zum Bürger der Stadt Graz ernannt worden. Dem schon Ende der 1920er Jahre stärker werdenden Hass auf jüdische Bürger*innen setzte er Aufklärung entgegen.
Von Prag war er 1908 nach Graz gezogen, hatte davor in Berlin studiert. Als der Antisemitismus zunahm, blieb er in Graz, um seine Gemeinde zu betreuen und anderen bei der Beschaffung notwendiger Papiere zur Ausreise zu helfen. Es ist dem Grazer Historiker Heimo Halbrainer zu verdanken, dass Herzogs Autobiografie wieder veröffentlicht wurde. Die schweren Misshandlungen der Nacht des Novemberpogroms 1938 überlebte Herzog und im Frühjahr 1939 gelang dem Ehepaar Herzog die Emigration nach England. Ihr Sohn Robert wird im Vernichtungslager Sobibor ermordet, nur der Sohn Friedrich überlebt, weil er nach Schweden emigrieren konnte. Nachzulesen sind Herzogs und weitere Lebensgeschichten im sehr übersichtlich gestalteten Buch „Nationalsozialismus in der Steiermark -Opfer, Täter, Gegner“ von Heimo Halbrainer und Gerald Lamprecht.
Johanna Lamprecht
Vom Straßenamt bewilligt
Der „Lauftext“ von Catrin Bolt ist auch das Mahnmal, das in Graz in den letzten Jahren am meisten ein Politikum war. Nicht, dass es viele Mahnmale in der Stadt gebe, die Opfern der Nationalsozialist*innen gedenken. Vor acht Jahren als temporäres Projekt des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark aufgetragen, war der Schriftzug verblasst.
ÖVP und FPÖ lehnten 2015 im Gemeinderat den Antrag auf Verlängerung ab, den die Grazer Grüne Daniela Grabe eingebracht hatte. Als „wichtiges Signal der Stadt Graz für Gedenkkultur im öffentlichen Raum“ wollten die Grünen den „Lauftext“ erneuert wissen - die SPÖ, KPÖ und die Piraten unterstützten den Antrag. Im Vorjahr wollte die Grazer KPÖ einen Gemeinderatsantrag zur Erneuerung stellen. Doch dann ging alles schnell und einfach: Im Jänner 2021 bewilligte das Straßenamt ein Ansuchen des Instituts für Kunst im öffentlichen Raum Steiermark.
Maria Motter
Als Catrin Bolt zum ersten Mal den Text auf den Gehwegen in Graz angebracht hatte, hielt sie keine Rücksprache mit der Jüdischen Gemeinde. Weil der Kampf gegen Antisemitismus in der Gesellschaft alle angeht. Von Gaffern und von Tätern handelt auch Herzogs Text und davon, wie Nazis die Grazer Synagoge in Brand steckten und die Feuerwehr nur die benachbarten Häuser schützte. Jetzt ist der Text wieder klar zu lesen. Die künstlerische Arbeit hat jetzt eine neue Laufzeit: Bis 2033.
Bei der offiziellen „Wiedereröffnung“ des Mahnmals am 10. November 2021 wird Elie Rosen, der Präsident der Jüdischen Gemeinde Graz anwesend sein.
Catrin Bolt entwirft gerade eine Art „Sicherheitskonzept“ als nächste Arbeit für das Forum Stadtpark, das kommendes Jahr in Graz zu erleben sein wird. Und für ihre nächste Installation in Erlauf war sie diesen September auf Lesbos: Catrin Bolt bat geflüchtete Kinder und Jugendliche, jenen Ort zu zeichnen, an dem sie sich geborgen fühlen.
Publiziert am 04.11.2021