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Japanischer Jugendlicher blickt durch Zugfenster

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„Heaven“ von Mieko Kawakami ist brutal und philosophisch zugleich

Mieko Kawakami wurde weit über Japan heraus bekannt durch ihren Roman „Brüste und Eier“. Einer ihrer großen Fans ist Haruki Murakami. Jetzt ist ihr neuester Roman „Heaven“ auch auf Deutsch erschienen, darin geht’s um Mobbing in der Schule. Mieko Kawakami nähert sich einem komplexen Phänomen mit einer klaren Sprache – und beunruhigend explizit.

Von Diana Köhler

Mobbing kann viele Formen annehmen, aber immer ist es psychische oder physische Gewalt. Nicht immer ist Mobbing leicht zu erkennen. Es beginnt, wenn eine Person über einen längeren Zeitraum ausgeschlossen oder ignoriert wird. Regelmäßige Beschimpfungen, Belästigung oder auch schwere körperliche Gewalt fallen ebenfalls unter Mobbing, wenn es über einen längeren Zeitraum passiert.

Hilfe bei Mobbing:

Wenn ihr gemobbt werdet oder seht, wie jemand gemobbt wird, dann könnt ihr euch Hilfe holen! Bei WienXtra Jugendinfo gibt es jeden 3. Dienstag im Monat (15:30-18:30) eine Mobbingberatung mit erfahrenen Expert*innen. Die Beratung ist anonym, kostenlos und ihr braucht keine Voranmeldung. Zur Beratung können aber nicht nur Betroffene von Mobbing kommen. Auch Lehrer*innen oder Eltern, die nicht wissen, wie sie mit der Situation richtig umgehen sollen, können sich dort beraten lassen. Mehr Infos zur Beratung findet ihr hier.

Einfach anders

Von zwei besonders schlimmen Fällen erzählt die japanische Autorin Mieko Kawakami in ihrem Buch „Heaven“. Wir begleiten den Namenlosen Ich-Erzähler und seine Klassenkameradin Kojima durch ihren Alltag, der vom Mobbing durch Mitschüler*innen bestimmt ist. Beide sind irgendwie „anders“ als die Kinder in ihrer Klasse. Der Erzähler schielt, Kojima will sich nicht waschen und kommt ungepflegt in die Schule. Wegen dieser Andersartigkeit werden sie fertiggemacht. Zwischen den beiden entspinnt sich aber eine Freundschaft, die zunächst fast nur über geheime Briefchen geführt wird.

„Guten Tag. Auch deinen Brief von heute habe ich wieder mehrfach gelesen. Du schreibst mit Druckbleistift, stimmt’s? Ich benutze einen Bleistift.“

Cover Heaven

Lübbeke Naumann Thoben, Köln

Der Roman wurde übersetzt von Katja Busson. Erschienen ist er im Verlag Dumont.

In den Briefen sprechen sie zunächst gar nicht über ihre Erfahrungen in der Schule. Sondern über das Wetter, Bücher oder über scheinbar Belangloses. Diese Freundschaftsebene steht in krassem Kontrast zum Schulalltag, in dem sie täglich physische und psychische Schmerzen erleiden müssen.

„Ich bin aus Angst eigentlich immer in Alarm. Zu Hause, in der Schule. Aber manchmal gibt es auch gute Momente, jetzt zum Beispiel, wenn ich mich mit dir unterhalte oder wenn ich dir schreibe. Das sind die guten Momente. Momente, in denen ich mich sicher fühle.“

Triggerwarnung

Eigentlich müsste für das Buch sogar eine Triggerwarnung ausgesprochen werden. Denn manche Szenen sind überraschend heftig und sehr gewaltvoll. Beim Lesen stellt man sich unweigerlich die Frage „Warum sagen sie es keinem? Wann gehen sie zu ihren Lehrer*innen, Eltern oder der Polizei?“ Diese Fragen sind es auch, die einen immer wieder umblättern lassen, obwohl man schon ein bisschen Angst hat, was auf der nächsten Seite passiert. Doch eigentlich verwundert es nicht, dass sich die beiden Niemandem anvertrauen. Denn die Erwachsenen in ihrem Umfeld sind kaum präsent, nicht hilfreich und zu sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt. Beide scheinen nie das Gefühl bekommen zu haben, dass man Erwachsenen vertrauen kann.

Gefährliche Zurückhaltung

Aber nicht nur das. Betrachtet man nämlich den geografischen Kontext, kommt noch eine Komponente hinzu. Laut einer transnationalen Studie (nachzulesen in einem Artikel der Deutschen Welle), sei es für Betroffene in Japan zusätzlich schwer, über ihre Erfahrungen zu sprechen, da sie andere nicht mit ihren Problemen belästigen wollen, ein Symptom der zurückhaltenden, aufs Kollektiv ausgerichteten japanischen Gesellschaft. Besonders schlimme Fälle von Kindersuiziden wegen Mobbing sind immer wieder präsent in der japanischen Öffentlichkeit. 2020 gab es in Japan 479 Suizide von Kindern, 6 davon wurden direkt mit Mobbing in Verbindung gebracht, zum Beispiel aufgrund zurückgelassener Abschiedsbriefe.

Komplexe Figuren

Die Ereignisse spitzen sich gegen Ende des Buches derart zu, dass man nur so auf den großen Knall wartet. Und der kommt auch, nur völlig anders, als gedacht. Die Autorin Mieko Kawakami spielt mit den Erwartungen der Leser*innen. Das zeigt sich auch an den zwei Hauptcharaktern, bemerkenswert ist gerade ihre Unperfektheit. Sie sind nicht nur edle Opfer, sondern komplexe, fehlerhafte Figuren, deren Beziehung zueinander auch toxische Züge annehmen kann.

Fast philosophisch behandelt Kawakami das Aushalten von Schmerz und Erniedrigung, ihre Sprache ist klar und schnörkellos. In „Heaven“ schauen wir aber nicht nur in den Kopf der Opfer, sondern bekommen auch einen Einblick in den Kopf der Täter*innen. Und das verleiht dem Roman nicht nur eine weitere spannende Ebene, sondern ist auch beängstigend. Denn Mobbing ist ein komplexes gesellschaftliches Phänomen. Es kann überall vorkommen, wo Menschen unfreiwillig zusammen funktionieren müssen. In der Schule, am Arbeitsplatz und auch in der Familie. Mieko Kawakami betrachtet das Spektrum in vielen Facetten.

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