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Kloster in Georgien

CC0//Pixabay

Buch

„Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ oder: Die Abgründe der patriarchalen Gesellschaft Georgiens

Der zweite Roman der georgischen Autorin Tamar Tandaschwili hat erneut für Kontroversen gesorgt. „Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ ist eine Abrechnung mit der patriarchalen Gesellschaft Georgiens.

Von Alica Ouschan

Buchcover Medea

Residenz Verlag

„Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ wurde von Tamar Muskhelischwili aus dem Georgischen übersetzt und ist im Residenz Verlag erschienen.

Georgien, die sogenannte Brücke zwischen Europa und Asien, wird aufgrund seiner atemberaubenden Landschaft nicht nur ein immer beliebteres Urlaubsziel. Das Land steckt schon lange in einer politischen Krise, die sich seit den letzten Parlamentswahlen im Oktober 2020 noch zugespitzt hat. Die Zustände sind das Ergebnis aus historisch bedingten, aber auch gesellschaftlichen Problemen. Einen Aspekt davon beleuchtet die georgische Autorin Tamar Tandaschwili in ihren Büchern: Geschlechterungleichheit und sexualisierte Gewalt gegen Frauen und sexuelle Minderheiten.

Vor kurzem ist ihr zweiter Roman mit dem Titel „Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ erschienen. Das Buch enthält explizite Beschreibungen von sexualisierter Gewalt, Homophobie, sowie Transfeindlichkeit und ist ein Versuch, der Gesellschaft einen Spiegel vorzuhalten. Was darin sichtbar wird, hat in Georgien eine große Kontroverse ausgelöst.

Vielfältige Frauenbilder

In „Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ begleiten wir die lesbische Journalistin Tina und ihre alte Schulfreundin Medea auf einer wilden Ermittlungsreise eines besonders üblen Falls von Sex-Sklaverei, der zu verjähren droht. Autorin Tamar Tandaschwili setzt dabei auf provokante Formulierungen, rasante Szenenwechsel und vielfältige, teils sehr untypische Frauenbilder: eine sexsüchtige Teenagerin mit geistiger Behinderung, lesbische Nonnen im Kloster, die sich gegen patriarchale Strukturen auflehnen, eine trans Frau, die von ihrer Familie verstoßen wird und als Sexarbeiterin Karriere macht oder eine junge Ehefrau, die von ihrem gewalttätigen Gatten im Streit vom Balkon geworfen wird.

„Männer leben in der ersten Person Plural und sterben in der dritten Person Singular. Frauen werden in der dritten Person Plural vergewaltigt, sterben aber stets in der ersten Person Singular.“

Übersättigung als Stilmittel

Damit zeigt Tamar Tandaschwili die grausame Vielfalt sexualisierter und patriarchaler Gewalt, welche Formen der Unterdrückung sie annehmen und wer alles darunter leidet. Die Autorin, eine Aktivistin und Bloggerin, die sich schon seit vielen Jahren für die Rechte sexueller Minderheiten in Georgien einsetzt, versucht merklich durch ihre Arbeit gesammelte Erfahrungen in den Roman zu packen.

Tamar Tandaschwili

Ira Kurmaeva_Nino Isakadze

Tamar Tandaschwili ist am Freitag, 12.11. auf der Buch Wien zu Gast. Mehr Empfehlungen zur Buch Wien gibt’s hier.

Dieser droht dadurch leider vor lauter Plot fast überzugehen und ins Absurde abzudriften. Rückblenden, Nebenhandlungen, Namensänderungen, ein einziges chronologisches Chaos – all das wird zum Glück durch ein Personenverzeichnis am Ende des Buches aufgedröselt. Wer sich den ultimativen Plot-Twist aber bis zum Ende aufbehalten will, nimmt die aufkommende Verwirrung während des Lesens in Kauf und schaut es sich erst ganz am Schluss an.

Gleichzeitig ist die Übersättigung an tragischen Schicksalen, expliziten Gewaltdarstellungen und unerwarteten Wendungen auf nicht einmal 150 Seiten eine beinah triviale Metapher dafür, wie stark die Gesellschaft von patriarchaler Gewalt durchsetzt ist. Dass auch Nachbar, Ehemann, Bruder und bester Freund zu Tätern werden können, ist eine Tatsache, auf die sich Tamar Tandaschwili gnadenlos draufsetzt.

Rache, Gerechtigkeit oder doch Gewaltschutz?

Auch das titelgebende Motiv der Rache kommt sehr plakativ und roh zum Vorschein, allerdings vollkommen anders als bei der Namensgeberin aus der griechischen Mythologie. Parallelen zur originalen Medea gibt es durchaus, jedoch sind sie von durchdachter Symbolik verschleiert, die sich erst ganz zum Schluss aufklärt. Die sich zuspitzende Verstrickung der Figuren hält den Spannungsbogen durchgehend aufrecht, während die Autorin mit der misogynen georgischen Gesellschaft abrechnet und bildgewaltige, symbolhafte Beispiele für die verschiedenen Formen der strukturellen Gewalt liefert.

„Sexuelle Gewalt an Frauen – ein georgischer Nationalsport."

„Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ muss teilweise mehrmals gelesen werden, um überhaupt ganz erfassen zu können, wie vielschichtig und politisch der Roman eigentlich ist und wie die darin erzählten Geschichten und Erfahrungen zusammenhängen. Der filmische Erzählstil gleicht einem Drehbuch. Wem es beim Lesen schwer fällt, vielen Figuren und komplexen Beziehungsgeflechten zu folgen, wird Tamar Tandaschwilis zweitem Buch eher wenig abgewinnen können.

In Georgien hat „Als Medea Rache übte und die Liebe fand“ jedenfalls eine große Diskussion ausgelöst – zwar haben die teils brutalen Darstellungen von Tamar Tandaschwili auch für Kritik gesorgt, gleichzeitig hat sie damit aber auch das Ziel der beiden Hauptfiguren Tina und Medea erreicht: Menschen aufrütteln, Diskussionen auslösen und patriarchale Gewalt sichtbar machen, so dass Wegschauen unmöglich wird.

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