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Tintenfischarme

cocoparisienne/Pixabay

Wortlaut

Chemie - von Luca Manuel Kieser

Mit „Chemie“ gewinnt Luca Manuel Kieser Wortlaut, den FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb.

Chemie

(1)
So nämlich jagen Wale: Mit offen stehendem Maul und sich um die Längsachse drehend schrauben sie sich in die Tiefe. Und wenn ein Tintenfisch, der regungslos im Wasser steht, auch unsichtbar sein mag, dem Echolot eines Wals entgeht er nicht. Anfangs sind es so leise Töne, dass nur er selbst sie hört. Eine heimlich gesummte Melodie. Doch sobald er nah genug ist, schlägt er mit einer Geräuschsalve zu.
Während du dann wieder zu dir kommst, wirst du in die Höhe geschleift. Bald seid ihr so hoch, dass dünnes Licht ins Wasser dringt, doch alles, was du sehen kannst, ist der endlose Körper. Du erkennst etwas an seinem Rücken und versuchst es zu erreichen, doch deine Arme rutschen ab. Der Druck des Kiefers, das immer wärmer werdende Wasser, es schnürt dir die Kiemen zu. Dein linker Tentakel findet eine Stelle, an der er sich festkrallen kann, und reißt mit letzter Kraft. Schwarze Hautfetzen und weißes, fasriges Gewebe wirbeln um dich. Dann klappt die Welt zusammen, die kühle Wal-Zunge, ein unendlicher Gaumen, ein Muskel, ein Sog.
Nicht alles von dir zersetzt sich. Dein Schnabel ist unverdaubar; und so stichst du in den Pylorus, kämpfst dich in den Darm, bohrst dich dort in die Flora und gerade, als du an Rache zu glauben beginnst, bildet sich um dich eine Substanz, die dich einbalsamiert. Alles klebt an dir. Du verklumpst.
Tage, Wochen, Monate verstreichen, während denen du zu einem immer größeren Brocken anwächst, dann würgt der Wal dich hervor; und es folgt eine zweite Ewigkeit, die du in einem Film aus Erbrochenem an der Wasseroberfläche durch die Weltmeere treibst; und es lässt sich gut vorstellen, what an unsavery odor such a mass must exhale; worse than an Assyrian city in the plague, when the living are incompetent to bury the departed.
Apropos Moby Dick: An dem Wal hast du Spuren hinterlassen. Rings ums Maul. Abdrücke deiner Saugnäpfe. Sie werden vernarben und nur die werden sie zu Gesicht bekommen, die Wale trotz der Verbote jagen und harpunieren, mit dem Kopf achtern und auf den Rücken drehen, aufschlitzen und abflensen, köpfen und abschöpfen. Geschichten werden sie sich ausdenken von einem Seeungeheuer. Die werden sich eine Weile halten und du wirst dabei immer böser werden – Seeungeheuer wachsen beim Erzählen – doch schließlich werden sie nichts mehr mit dir zu tun haben. Und dann, spätestens dann, wirst du nur noch in jenem Erbrochenen sein, was mit der Zeit auslüften, im Salzwasser hart, im Sonnenlicht hell und schließlich an Land gespült werden wird.

Luca Kieser Porträt

Nikolaus Stein

Luca Manuel Kieser
kam 2014 nach Wien, um Sprachkunst zu studieren.
Inzwischen studiert er Ethik, unterrichtet an der Kunst-VHS und engagiert sich an der PROSA-Schule. Vor allem aber schreibt er: Für sein Romanprojekt über einen Riesen-Tintenfisch erhielt er dieses Jahr ein Startstipendium des BMKÖS. Auch die Wortlaut-Geschichte gehört irgendwie zu diesem tentakeligen Text. Mehr Infos gibt’s auf lucakieser.de.

(2)
Geschnüffel. Knurren. Gekläff. Und dann begeistertes Bellen, das den Herrn, einen Menschen-Mann in giftgrünen Bermudas und La-Coste-T-Shirt mit gelbem Krokodil auf schwar-zem Grund, herholen soll. Dieser will eigentlich weiterspazieren; er hält dich für einen Baumstumpf. Doch sein Tier gibt einfach keine Ruhe; also watschelt er doch zu dir: Aus der Nähe betrachtet siehst du aus wie ein Elefantenfuß.
Du spürst, wie ratlos er zu dir hinunterguckt; ein Baumstumpf bist du jedenfalls nicht.
Er kniet sich zu dir in den Sand; du bist kein Holz.
Er drückt auf dir herum; aber du bist auch kein Stein. Er zupft etwas von dir ab; du bist eine gräuliche, mit gelben Punkten und Streifen durchsetzte, zähe Masse. Außen spröde, innen ölig und weich. Was er abgezupft hat, zerreibt er und ein bouquethafter Geruch steigt ihm in die Nase. Vor seinem geistigen Auge flammt das Bild von schwarzen Locken auf, doch bevor er hineingreifen könnte, reißt ihn eifersüchtiges Gebell zurück. Er ermahnt sein Tier, zückt das Smartphone, schießt von dir ein Foto und jagt es durch Google googles.
Der erste Artikel, den er liest, läuft darauf hinaus, dass eine Mutter (38) eine Nadel in eine angeschwemmte Weltkriegsgranate steckt und explodiert. Alle anderen Artikel enden damit, dass irgendein bitterarmer uralter Fischer über Nacht zum reichsten Mann im Dorf wird. Zumindest sofern er nicht in den USA oder in Australien lebt. Denn dort stehen Wale unter so strengem Schutz, dass es sich mit ihnen ähnlich verhält wie mit Elefanten oder Krokodilen: Der Besitz ihres Fleisches, ihrer Stoßzähne, ihrer Knochen, ihres Leders oder ihres Haars ist verboten. Ganz zu schweigen vom Handel damit. Glück für den Kroko-Mann: In der EU giltst du gemeinsam mit Urin und Kot als auf natürliche Weise ausgeschieden. Und so wirst du, während dieser seinem Tier ein mit Diamanten besetztes La-Coste-Halsband bestellt, in eine Kiste gepackt, quer durch den Kontinent geschickt und dann in zwei Hälften geteilt:

(3.1)
Bereits Sindbad hat dich gekannt. Nachdem er auf seiner sechsten Reise Schiffbruch erleidet – der Kapitän verliert den Kurs, reißt sich den Turban vom Kopf, ein Sturm kommt auf und das Schiff zerschellt – strandet er auf einer Insel, von der man, wie sich später herausstellt, nur in einem unterirdischen Fluss und wundersamer Weise dadurch, dass man schläft, nach Sri Lanka entkommt. Doch bevor der Kaufmann von seinen Abenteuern erzählen kann, macht ihn jenes insulare Negativ halb wahnsinnig:
Überall Rubine und Perlen und allerlei Juwelen. Selbst der Sand glitzert und funkelt. Schönstes Aloenholz, sowohl chinesisches wie komoriner; und schließlich entspringt dort auch ein Quell an rohem Deinigen, das wie Wachs über die Bachufer fließt, so groß ist die Hitze der Sonne; und du strömst nieder zur Meeresküste, wohin die Ungeheuer aus der Tiefe kommen und dich verschlucken und damit zurückkehren in das Meer. Da du ihnen in den Eingeweiden brennst, speien sie dich wieder aus, und du erstarrst auf der Oberfläche des Wassers, sodass du dich in Farbe und Menge wandelst; und schließlich werfen die Wellen dich ans Land, und die, die dich kennen, sammeln und verkaufen dich. Das rohe Deinige aber, das noch nicht verschluckt ist, fließt über das Bett und erstarrt auf den Ufern; und wenn die Sonne darauf scheint, so schmilzt du und erfüllst das ganze Tal mit deinem Duft; und wenn die Sonne verschwindet, so erstarrst du von Neuem. Niemand aber kann dorthin gelangen, denn die Berge, die die Insel auf allen Seiten umschließen, kann keines Menschen Fuß erklimmen – masn ghabt, dass Österreich ein Land voller Berge ist, dessen Töchter und Söhne von klein auf lernen, am Gipfel keine Milch zu trinken, oder, wenn sie am Gipfel Milch trinken, zumindest so langsam abzusteigen, dass die Magensäure die Milch nicht stocken lässt. Niemand, der hier aufgewachsen ist, kommt im Tal mit einem Kilo Butter im Bauch an, geschweige denn reagiert wie dein Wal einst. When biotechnologists follow their noses lautet deshalb die stolze Schlagzeile des Austrian Centre of Biotechnology, dem es gemeinsam mit der Universität Graz gelungen ist, Ambrein auf einem zur Gänze natürlichen BiosyntheseWeg zu entwickeln. Aus Germ. Hefe, Khamira, Levure.
Und das bereits 2019.

Unverständlich also, weshalb Thomas Fontaine, ausgebildet am Institut supérieur international du parfum, de la cosmétique et de l’aromatique alimentaire, dennoch Folgendes komponiert: Kopfnote Rosa Pfeffer, Mandarine und Bergamotte. Herznote Rose, Zimt, Weihrauch und Orangenblüte. Basisnote Vanille, Benzoe, Sandelholz und eben:
Du
In geheimem Verhältnis werdet ihr in ein Flakon gefüllt und habt zu warten – deine dritte Ewigkeit – bis es euch hinaufsaugt und durch den Zerstäuber hinaus in die Welt spritzt, auf dass du jenen Nebel, den ihr dort bildet, zusammenhältst und an seinen Bestimmungsort führst: Menschenhaut. Frauen-Menschenhaut. Haut zweier Handgelenke. Haut einer Kehle. Von unsichtbarem Flaum bedeckt, von so feinen Poren durchsetzt, dass die winzigen Tröpfchen, die ihr hier bildet, geradlinig darauf abrollen. Und so dünn, dass du ihren Herzschlag spürst. Dann bebt sie, die Welt, und erhitzt sich. Weil sie sich euch aufgelegt hat? Sinbad von Lubin Paris. Jedenfalls dringst du mit der Hitze in sie ein. Du verbindest dich mit ihr, beziehst dich auf ihre Vergangenheit und gibst ihr damit eine Zukunft: Alexa. In wenigen Jahren wird sie Drohnenpilotin bei der US Air Force werden.

Wortlaut 2021 - Die besten drei:

Platz 1 - Luca Manuel Kieser
Platz 2 - Sarah Rinderer
Platz 3 - Christian Hödl

(3.2)
Deine andere Hälfte nimmt den Weg, der für deinesgleichen bestimmt ist, seit dich Johannes Hartlieb, Schwabe, Antisemit, Magier und Schoßhund des ersten aller ersten Humanisten Nikolaus von Kues, in seinem Kräuterbuch
die hochst erznei zu dem herzen
nannte. Also verbrannte man dich. Gemeinsam mit Weihrauch. Oder als kostbare Kerze. Lutschte dich als Pastille. Oder kippte dich in den Clairet, um sich geil zu machen.
Und auch heute noch landest du im von Gott geküssten Baden-Württemberg: Man zerbröselt dich und lässt dich dann drei Wochen in einer Ethanol-Wasser-Lösung auflösen, mazeriert dich, wie man sagt, zur Urtinktur. Als solche wirst du diluiert, sprich verdünnt, und zwar zu einer C-Potenz, ein Teil du, hundert Teile nicht du. Dann klopft man mit dir exakt zweihundert Mal auf den Tisch und – abrakadabra – du bist:
DHU Ambra C200
Wieder im Verhältnis eins zu hundert wirst du zu Kristallzucker-Kügelchen in einen Dragierkessel gegeben. Der Kessel dreht sich – waschmaschinentrommelmäßig – und der Idee nach haftest du jetzt den sogenannten Globuli an. Doch exakt dieser Waschmaschinentrommel-Moment ist auch der Augenblick in deiner Geschichte, von dem an du dich unaufhörlich fragen musst, ob du überhaupt noch existierst. Du bist offensichtlich nicht fort, sonst könntest du dich das ja nicht fragen. Aber so richtig da bist du auch nicht mehr. Du bist wie der Schatten eines Baumes, den man längst gefällt hat.
Glück gehabt, dass es für Herrn Bath, technischer Übersetzer im indischen Außenministerium, weniger drauf ankommt, ob ein Baum noch steht oder nicht, solange es sich nur um einen deutschen handelt. Fan, ja, treuer Kunde ist Herr Bath, seit er mit einem anderen Karlsruher Wunder-mittel um eine Corona-Infektion herumkam. Drei Tage lang auf nüchternen Magen Arsenicum album C30 – und sein Körper war für das Virus tabu.

(4.1)
Die Hitze führt dich in die Nacht, die Nacht ins Bett eines Fremden, den Fremden in dich, dich am frühen Morgen nachhause und Zuhause direkt unter die Dusche.
Pinkeln, das hat ja schon immer den Auftakt deines Duschgangs dargestellt. Du hast es dir irgendwann noch vor der Pubertät angewöhnt, sodass mittlerweile das Gefühl von Porzellan unter den Füßen und ein wenig in den Nacken sprühendes Wasser genügen, um irgendwelche Bauchmus-keln in eine Art Hypnose zu versetzen. Sie lassen dann los. Wenn sich das allerdings heute zum zweiten Mal innerhalb ein und desselben Duschgangs ereignet, zeugt das vor allem davon, wie verdammt lange der Duschgang bereits andauert, und ein so langer Duschgang lässt sich eigentlich nur auf eine Weise interpretieren: Dass es sich beim heutigen Tag nicht mehr nur um einen schlechten Tag handeln kann, sondern man von einem komplett sinnlosen sprechen muss. Eine Interpretation, die nur eine Schlussfolgerung zulässt: Etwas stimmt nicht mehr.
Also wirst du da stehen, im Wasserfall und im Dampf, und auf das Schnurren der die Blase umgebenden Muskeln wird jene Leere folgen, in der alles voll egal ist, auch wenn die Frage nagt, was genau nicht mehr stimmt.
Eine Minute wird vergehen, vielleicht zehn, bis du wieder in die Zeit mit jenen beiden Handgriffen zurückfinden wirst, die das Wasser abstellen und den Duschvorhang beiseite schieben werden. Wirbel im Wasserdampf. Und wenn du dann aus der Kabine steigen wirst, wird sich aus deiner linken Rachenmandel ein Mandelstein lösen, sich herausschieben aus dem Spalt im Gewebe, in dem er herangereift ist. Und obwohl du mehrere Male schlucken wirst, wird der Stein an der Mandel hängenbleiben, sodass du ihn letztlich ins Waschbecken husten wirst. Die Frage, ob du in der vergangenen Nacht aus dem Mund gerochen hast, wird sich zu der in der Leere tobenden Frage gesellen. Ihr Geschmack wird sich in deinem Gaumen ausbreiten. Mit dem Licht deines Smartphones wirst du deinen Mundraum ausleuchten und die von Dutzenden Entzündungen vernarbten Mandeln absuchen nach hervorquellenden weißen Punkten. Du wirst keine finden, nur einen erahnen, ebenfalls in der linken Mandel, doch wenn du mit dem Finger dagegen drücken solltest, wird er sich nur tiefer in die Furche hineingraben. Du wirst auf den Mandeln herumdrücken können, bis der Würgereiz so groß sein wird, dass dir die Tränen in die Augen steigen. Also lass es. Greif lieber gleich zu der Zahnbürste, denn so wirst du zumindest den Geschmack loswerden. Du wirst dich anziehen und die Frage, ob du zocken sollst, wird sich mit der Frage um die Leere und der Frage nach dem Mundgeruch vermischen.
Du wirst keine Antworten finden.
Also wirst du das Haus verlassen.
Und an einem der runden Starbucks-Tische enden, die nur deshalb nicht rechteckig sind, damit man sich an ihnen nicht so einsam fühlt. Eine Strategie, die dich, da du ja nun bereits um sie weißt, nur noch verlassener fühlen lassen wird: Du, ein Baum ohne Wald, der durch amazon klickt, auf der Suche nach einem Kleid für Wendys Hochzeit.

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Radio FM4

„Aussicht“ war 2021 das Thema von Wortlaut, dem FM4 Kurzgeschichtenwettbewerb.
Rund 700 Kurzgeschichten wurden eingereicht.
Hier ist die Longlist.
Hier die Shortlist.

(4.2)
Aber nicht nur kein Corona. Die Deutsche Homöopathie Union ließ Herrn Bath sich selbst erkennen:
Als typischer Ambra-Mensch hatte er, wie die DHU wusste, in der Kindheit ausgesehen wie ein Greis. War, wie die DHU ebenfalls wusste, schwächlich, quengelig und abgemagert gewesen. Zwar hatte sich das bis auf seine Magerkeit und den leicht schwankenden Gang verwachsen, doch war die Scheu vor Menschen geblieben. Wie die DHU näm-lich wusste, war Herr Bath als typischer Ambra-Mensch schnell überfordert und reagierte hysterisch auf kleinste Abweichungen im Alltag. Menschen machten ihn nervös. Er blieb lieber allein. Und, auch das wusste die DHU, die Vorstellung sich in der Öffentlichkeit entleeren zu müssen, ließ ihn jede freie Minute auf dem Klo hocken.
Phantasien verfolgten ihn seit der Pubertät, Bilder aus seinem Darm, wo seit Tagen, Monaten, ja, Jahren steinharte Brocken in den Zotten verkrusteten und sich einfach nicht lösen wollten. Immer wieder leerte er ganze Nächte hindurch Abführmittel in sich hinein. Nahm manchmal Tage lang außer Flohsamen und Coca-Colalight nichts zu sich; und war bei seinen Kollegen bekannt als einer, der andauernd mit der Hand Kreise auf dem Bauch strich.
Seit er allerdings deinen Schatten entdeckt hat, fühlt er sich wieder wie früher, als er (als Greis) noch nichts wusste von den Tücken einer Welt, die sich in ein Innen und ein Außen teilt. Und so steht bei ihm alles auf Revolution.
Als typischer Ambra-Mann ist Herr Bath nämlich, auch wenn er sexuell schnell erregbar ist, einem anderen Menschen noch nicht wirklich nahegekommen. Und doch gibt es einen, bei dem er sich das zwischen all den Darm-Phantasien schon lange ausmalt: Als er vor einigen Jahren in der indischen Botschaft in Washington D.C. arbeitete und eine Delegation von Palantir Technologies – es ging um eine Predictive-Analytics-Software – empfing, lernte er Wendy kennen. Nur eine Praktikantin. Doch der beruhigendste Mensch der Welt. Und vor allem die erste Frau, mit der es ihm gelang, sich in den folgenden zwei Jahren wie-derholt zu verabreden.
Und nun will es das Glück, dass diese Wendy ihn ausge-rechnet, als er endlich herausgefunden hat, wie sein Handi-cap zu handeln ist, ausgerechnet, als er sein Life endlich gehackt hat, einlädt. Zwar zu ihrer Hochzeit mit Peter, doch – auch das weiß die DHU – eindeutig mit Hintergedanken.

(5.1)
Das Kleid muss erstens alle anderen Geschenke übertrumpfen. Und in Anbetracht der Tatsache, dass es sich um das (!) Kleid handeln wird, besitzt es ja von vornherein ein Alleinstellungsmerkmal. Von daher könntest du dich eigentlich zurücklehnen und voll und ganz darauf setzen, dass Wendy niemals zulassen würde, dass dein Kleid nicht das allerbeste Kleid sein wird für immer und ewig, egal was auch passiert. Doch irgendwie zweifelst du daran die Einzige zu sein, der diese bisschen weirde Aufgabe zuteil geworden ist. Wendy, für die Freundschaft ein Game ist voller Tests und Prüfungen, hat garantiert noch andere Freundinnen in die gleiche Challenge geschickt. Es gibt da noch Liv, mit der Wendy seit dem College mehr Zeit verbracht hat als mit dir. Und dann gibt es noch Katy, die sie im vorletzten Sommer bei Palantir Technologies kennengelernt hat. Du bist zwar die älteste Freundin, aber wer gerade im Team ist und wer der End-gegner, das weiß allein Gott.
Zweitens – und zweitens gilt unabhängig von erstens – muss das Kleid dafür entschädigen, dass du versagt hast, als Wendy dir von der Hochzeit erzählt hat. Beziehungsweise von der Verlobung. Es muss wieder gutmachen, dass du doch tatsächlich gefragt hast, wie er (!) es getan hat. Dass du obviously das Mädchen, mit dem du im Sandkasten geschworen hast, die Jungs niemals gewinnen zu lassen, für eine gehalten hast, die den Antrag den Jungs überlässt.
Dein Blick bleibt an einem knöchellangen Kleid von Kenzo hängen. Die Beige-Töne lassen dich an Vanille-Eis denken. 752 Dollar, deutlich weniger, als du bereit wärst auszugeben. Doch irgendetwas hat es. Obwohl Viskose drin ist. Ist ja nicht deine Haut, sagst du dir. Und während du dich durch die verschiedenen Ansichten klickst, gefällt es dir immer besser. Wendy könnte hervorragend darin aussehen. Besonders magst du, dass es plissiert ist. Die Streifen aus zwei unterschiedlichen Beige-Tönen fließen von einem hochsitzenden Rundhalsausschnitt schnurgerade nach unten. Der hellere Stoff liegt dem dunkleren auf und verwirrt dabei den Eindruck bloßer Haut. Was hervorragend ihr schwarzes Haar zur Geltung bringen würde, ohne bitchig auszusehen. Du kannst dir sogar vorstellen, dass die Streifen pantielines verhindern. Du überlegst, ob du dich nun auch noch darum kümmern sollst – Schuhe und Schlüpfer – und entscheidest, dass man das ja wohl auch noch nach sämtli-chen Revolutionen erwarten kann.
Wie bei Call of Duty Warzone, wenn man über dem Kampfgebiet aus dem Flugzeug springt, die Welt langsam groß wird, erscheint allerdings dann vor deinem geistigen Auge, was Wendy einmal getan hat. Im Streit.
Mit einem benutzten Kondom.
Einem von ihr und Peter benutzten Kondom.
Du warst so richtig krass verknallt in Peter und der Umschlag, in den Wendy dir das Kondom überreichte, war lila.
Aber womit hatte der Streit angefangen?
Verlassene Fabriken, ausgebrannte Fahrzeuge. Hinter einem springt ein Spieler hervor, der wie Putin aussieht, Oberkörper frei mit einem RAM-7-Sturmgewehr in Händen.
Wie du sie beim Shoppen dazu überredest, ein ziemlich teures Kleid eine Nummer zu klein zu kaufen, um Ansporn zu haben bis zum nächsten Frühjahr abzunehmen.
Du brichst den Bestellvorgang ab, klickst zurück und änderst die Größe von S auf XS. Du klickst wieder weiter, hältst aber wieder inne. Dass Wendy an diesem Tag herumrennen und fett wirken könnte, ist aus so vielen Gründen unrealistisch, dass du sie gar nicht aufzuzählen versuchst. Also klickst du erneut zurück und änderst von XS auf S, überlegst eine Weile – und änderst dann von S auf M.

(6)
Endlich. Herr Bath betritt den schwarz-weiß gefliesten Raum, in dem sich die Gäste versammelt haben. Schlagartig ist das Widerstreben da. Doch er steckt seine Hand in die Jacket-Tasche – und bewegt sich durch die Menge, als sei alles ein großer Tanz. Eine erste berührte Schulter, ein erstes genuscheltes Excuse me. Dann der erste Partner, ein Kellner mit prächtiger Fliege. Nach einer Pirouette hat Herr Bath ein Sektglas in der Linken, nippt und ist weiter. Zwischen zwei Damen mit queenartigen Sommerhüten hindurch. An einem ziemlich hohen und viel zu schnellen So cute vorbei. Ohrringe rascheln, Lippen schürzen, Displays leuchten auf. Es ist Eleven AM – und auch wenn Herr Bath weiß, dass Wendy vor seinen Blicken verborgen gehalten wird, noch verborgen gehalten wird, ist ihm, als könne sie gleich hier irgendwo stehen, zwischen den nickenden Freundinnen und kichernden Verwandten und verwirrten Kollegen. Alle hier haben, statt ihr Gegenüber anzusehen, unaufhörlich die Umgebung im Blick, wie Wild, das einen Tiger im Unterholz weiß – und dann dreht sie sich um.
Keine zwei Meter von ihm entfernt über die Schirmmütze und die geflochtene Frisur eines Tüll-Knäuels hinweg erblickt er sie und weiß, dass er nicht wegen Wendy hier ist.
Helles Haar, blasse Haut und ein Kleid, in dem sie einem nicht ganz aufgeblasenen Heliumballon ähnelt – muss ein Engel sein, das ist Herrn Baths erster Gedanke. Dass ihre dunkelvioletten Pumps sie davon abhalten, in den Himmel zu schweben, der zweite. Dann bemerkt er den Strauß aus gelben Blütenblättern und auch irgendetwas Blauem darin und den Sekt, der allerdings mit Orangensaft verdünnt sein muss. Dritter Gedanke. Oder gar kein Sekt ist, sondern purer Saft. Vier. Und mit beidem – Strauß und Sekt oder Strauß und Saft – prostet sie ihm, der nicht schnell genug weggeguckt hat, zu. Da vergisst Bath seinen Vornamen und wendet sich um neunzig Grad, damit sie nicht sieht, was er aus der Tasche zieht. Es ist gar nicht so leicht mit nur zwei Händen, die auch noch feucht sind, ein amerikanisches Sektglas und ein deutsches Fläschchen zu koodinieren. Er will sich gerade eine Ladung Globuli in die Hand kippen, da hört er neben sich ein Hi,
I’m Alexa.
Und das Fläschchen, das Bath zwischen Mittel- und Ringfinger geklemmt hat, rutscht.
Es gibt eigentlich keinen Fall, schon zerspringt es. Und als dies geschieht, als dein Schatten platzt, weißt du plötzlich: Du bist noch da. Du, du springst dutzendfach über den Boden. Neben, hinter, vor und zwischen dir hüpfst du. Du kullerst über das Schachmuster und klingst dabei hell wie der Sand am Strand, der dich einst in Empfang nahm.
Überall bleibst du liegen. Mitten im Schwarz, mitten im Weiß, genau auf der Grenze, unter einem wippenden Leder-schuh. Vor einem einschüchternden Absatz. Oder eben auch im dunkelvioletten Schein eines Engels.
Du spürst, wie sich hoch über euch alle möglichen Gesichter umdrehen und Blicke über dich wandern. Du spürst, wie Bath zu dir hinunterstarrt.
Und dann hörst du, wie der Engel sagt: I stole these shoes from my mom.
Du hörst Bath irgendetwas fiepen.
Du hörst, wie der Engel sagt: I laced em up with new strings.
Herr Bath geht instinktiv in die Hocke; und dann spürst du, wie seine Hände dich zusammenschieben.
Du hörst, wie der Engel sagt: They feel a wee bit tight.
Du hörst, wie er sagt: Although all shoes are a bit tight on me.
Du hörst: Because of my toes.
Und dann spürst du, wie sich der violette Schein verändert. Die Fersen der Pumps heben sich, alles Gewicht verlagert sich auf ihre Spitzen – I would rather have no toes – und dann gesellen sich zu Baths Händen ein weiteres Paar Hände, engelweiß. Because, you know, Batman doesn’t have any toes. Und als dann Baths Hände und die Engel-Hände gleichzeitig nach dir greifen, spürst du, dass ihr zusammengehört.

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