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Mehr als 30 Menschen starben nach dem Kentern eines Flüchtlingsbootes zwischen Frankreich und Großbritannien am 24.11.2021

FRANCOIS LO PRESTI / AFP

robert rotifer

Tödliche Geschäftsmodelle

Im Ärmelkanal versank gestern ein Gummiboot, mindestens 27 Menschen kamen dabei ums Leben. Die Schuldzuweisungen nach der Katastrophe greifen wieder einmal viel zu kurz. Aus politischem Kalkül.

Von Robert Rotifer

Eigentlich wollte ich ja auch Beatles schauen heute Vormittag, aber ein Problem an all dem Versinken in der Vergangenheit ist, dass einem das ganze All you need is Love / Getting better all the time / Let it be dann gelegentlich auch ein wenig unangenehm aufstoßen kann, wenn es mit der Realität der Gegenwart gar so brutal kollidiert.

Robert Rotifer moderiert FM4 Heartbeat und lebt seit 1997 in Großbritannien, erst in London, dann in Canterbury, jetzt beides.

Gestern also ist im Ärmelkanal zwischen Frankreich und Großbritannien das lange Vorhergesehene passiert. Laut offiziellen Zahlen der französischen Behörden sind 17 Männer, sieben Frauen, manche davon schwanger, sowie drei Kinder und Jugendliche ertrunken, als ihr Gummiboot beim Versuch der Überfahrt von Grande-Synthe nahe Dunkerque auf die britische Hauptinsel aus bisher ungeklärten Gründen kenterte und versank (zwei Überlebende liegen in der Intensivstation).

Die meisten von ihnen, heißt es, seien Asyl suchende Kurd*innen aus dem Irak und dem Iran gewesen. Fest steht: Jedes einzelne dieser Menschenleben ging nicht nur völlig unnötig verloren, sondern als Konsequenz bewusster Entscheidungen.

Dass so eine Tragödie noch diesen Herbst oder Winter passieren würde, war nämlich völlig klar, nachdem laut Angaben des britischen Innenministeriums allein im heurigen Jahr mehr als 25.700 Menschen diese Reise durch die dichtest befahrene Schifffahrtsroute der Welt erfolgreich überstanden hatten. Die Dunkelziffer der bisher Gescheiterten ist unklar, so wie es bei einem ideologisch aufgeladenen Thema wie diesem überhaupt unmöglich scheint, an verlässliche Zahlen heranzukommen.

a French volunteer sea rescue organisation Societe Nationale de Sauvetage en Mer (SNSM) boat carrying bodies of migrants arriving at Calais harbour after 27 migrants died in the sinking of their boat off the coast of Calais

FRANCOIS LO PRESTI / AFP

Der heutige Guardian etwa scheint sich selbst zu widersprechen, wenn im Vorderteil geschrieben wird, die Zahlen von 2021 brechen alle Rekorde, mit dreimal so vielen Kanalkreuzungen wie im letzten Jahr, während Aditya Chakrabortty in seiner Kolumne im Blattinneren klarstellt, dass die Zahlen von Asylsuchenden in Großbritannien tatsächlich fallen.

Grund dieser Divergenz ist ganz offensichtlich die Tatsache, dass es in den letzten Jahren faktisch unmöglich geworden ist, als Asylsuchende*r auf einem anderen Weg nach Großbritannien zu gelangen. Die Routen durch den Kanaltunnel, ob in einem LKW, PKW oder an Bord eines Lastenzugs, wurden nicht nur durch die Pandemie abgeschnitten, sondern auch durch den fortschreitenden, mit britischen Mitteln finanzierten Ausbau der Kontrollen und abschreckenden Zäune rund um die Tunneleinfahrt in Calais.

Bevor diese Menschen als letzte Etappe ihrer langen Reise Frankreich durchqueren, ist es im Ursprung aber wohl das Fehlen jeglicher Möglichkeit, vor der Ankunft in Großbritannien um Asyl anzusuchen, das immer mehr von ihnen in die Fänge der berüchtigten Schlepperbanden an der französischen Nordküste treibt.

Mehr als 30 Menschen starben nach dem Kentern eines Flüchtlingsbootes zwischen Frankreich und Großbritannien am 24.11.2021

FRANCOIS LO PRESTI / AFP

Die „ehrlichen“ Flüchtlingen vorgeblich offenstehenden „sicheren Routen“ ins Königinnenreich, von denen britische Politiker*innen und die sie vor sich hertreibende Presse stets fantasieren, wenn sie Asylsuchende als „illegal“ brandmarken, existieren schlicht und einfach nicht.

Und deshalb musste ich gestern auch den Fernseher abdrehen, als sie den Schatteninnenminister von der Labour Party interviewten. Und zwar in der Sekunde, da jener hier namenlos bleibende weil völlig vergessenswerte Phrasenautomat seiner Beteuerung persönlicher Betroffenheit gleich eilig die übliche Floskel „Aber lassen wir keinen Zweifel daran aufkommen, wer hier die Schuld trägt - die Menschenschmuggler*innen!" hinterher schickte.

Denn auf die Gefahr hin, dass euch das alles allzu bekannt vorkommt: Es gibt in der Tat kein Geschäftsmodell, über das man uns in den letzten Jahren mehr erzählt hätte als das Geschäftsmodell der Menschenschmuggler*innen. Und darüber, wie man jenes am besten beseitigen könne.

Endlos die erlittenen Interviews mit konservativen Politiker*innen, die einem erklären, jenes Geschäftsmodell würde sich augenblicklich im Nichts auflösen, wenn bloß
a) „the French“ mit dem Nasenbohren aufhörten.

Wo man doch sowieso den Eindruck habe, sie wollten die ganzen „migrants“ ohnehin bloß selber loswerden und außerdem nach dem Brexit den Briten unbedingt die lange Nase zeigen.

Wären „the French“ dagegen zur „Zusammenarbeit“ bereit, könnte man schließlich
b) alle Asylsuchenden, die an der britischen Küste landen, umgehend nach Calais zurückschicken.

Das würde sich dann schnell herum sprechen, und es wär wieder Ruhe.

Gewürzt werden solche Meinungen regelmäßig mit der Randbemerkung, es handele sich grundsätzlich ja nicht um Flüchtlinge, sondern um „economic migrants“, da sie ja allesamt durch sichere Länder angereist seien. Erstaunlicherweise seien aber jene Leute, die aus wirtschaftlichen Gründen ihr Leben riskieren, gleichzeitig auch durchaus „wohlhabend“. Das merke man schon daran, welche Summen sie den Menschenschmuggler*innen bezahlten (hab ich gestern tatsächlich im BBC-Radio gehört, bevor ich auch dieses abdrehte).

Solch zwingender Logik zufolge müsste Großbritannien – dessen Zahlen bearbeiteter Asylanträge (Quelle: UNHCR) einen Bruchteil derer anderer westeuropäischer Länder ausmachen – als Insel am westlichen Ende Europas eigentlich gar niemand mehr Asyl gewähren, der/die es nicht per Flugzeug oder im Boot über den Atlantik auf die Insel schafft. Und so hätten es die Leute, die so reden, wohl auch wirklich am Liebsten.

Die oberschlau noch weiter nach rechts schielende Strategie der Opposition besteht einstweilen darin, zu beklagen, die Regierung „tue einfach nicht genug“ und „breche ihr Versprechen“, die „Migrantenkrise in den Griff zu bekommen.“

So stellt man sich in Keir Starmers Labour Party offenbar vor, was die bei den letzten Wahlen an die Tories verlorene Working Class im Norden Englands hören will (was allerdings mehr über die Klassenvorurteile der Labour-Strateg*innen verrät als über die Working Class im Norden Englands).

Dabei könnten Opposition und Interviewer*innen eigentlich jedes Mal, wenn Punkt b ins Spiel gebracht wird, darauf hinweisen, dass das einfache „Zurückschicken“ Asylsuchender nach Frankreich einen klaren Bruch internationalen Rechts darstellen würde.

Innenministerin Priti Patel etwa lässt ihre Border Force bereits in Manövern das Abdrängen von Flüchtlingsbooten üben und fordert sogar Immunität für Grenzbeamt*innen, die die Tode von Flüchtlingen verursachen.

Sowohl von ihren eigenen Rechtsberater*innen im Home Office als auch von zur Klage bereiten Aktivist*innengruppen wurde Patel wiederholt über die potenzielle Illegalität ihrer Pläne aufgeklärt, beide ignoriert sie aber beharrlich.

Schließlich gehört der mutwillig provozierte Konflikt mit dem Rechtssystem ohnehin mit zum populistischen Handbuch. Als mögliche Nachfolgerin des zunehmend außer Kontrolle geratenden Chef-Clowns sammelt Patel bereits eifrig Schlagzeilen, die bei der rabiaten Parteibasis gut ankommen. Konflikte mit Menschenrechtsorganisationen und Paragraphenreiter*innen aus dem Beamt*innenstab sind da nur willkommen.

Punkt a) wiederum, die vorgeblich mangelnde Kooperation Frankreichs, hängt tatsächlich mit dem Brexit zusammen, allerdings aus technischen Gründen, die mit französischem Sentiment rein gar nichts zu tun haben. Mit dem EU-Austritt erfolgte vielmehr auch der Ausstieg Großbritanniens aus dem Dubliner Übereinkommen. Und der bringt eben mit sich, dass eine Abschiebung in ein anderes Dublin-Land nach dessen Regeln nun rechtlich nicht mehr vorgesehen ist. Genauso, wie es auch keine legale Route zur Zusammenführung von Angehörigen mit Familienmitgliedern in Großbritannien mehr gibt.

All das sind die tatsächlich essentiellen Voraussetzungen für das Geschäftsmodell der Menschen-Schmuggler*innen bzw. zumindest Ansätze zur Beantwortung der nie ausreichend gestellten Frage, warum ein – tatsächlich sehr kleiner – Teil der Flüchtlinge und sonstigen Asylsuchenden, die nach Europa kommen, ihr Leben dafür riskiert, es nach Großbritannien zu schaffen.

Will aber niemand so genau wissen.

Nicht bloß, weil die eigenen Vorurteile über die Motive für das Heranströmen von Menschen aus Regionen, die man selbst noch vor ein paar Jahren bombardiert oder okkupiert hat, bequemer zu reproduzieren sind als die Wahrheit.

Sondern auch, weil einem sonst einfach viel zu sehr grausen müsste vor sich selbst und dem eigenen Geschäftsmodell. Als Mensch.

Mehr als 30 Menschen starben nach dem Kentern eines Flüchtlingsbootes zwischen Frankreich und Großbritannien am 24.11.2021

FRANCOIS LO PRESTI / AFP

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