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„Das russische Testament“: Auf den Spuren sowjetischer Literatur in Westbengalen

Mit ihrem neuen Buch „Das russische Testament“ kehrt Shumona Sinha zurück zu ihren literarischen Wurzeln. Darin geht es um die kommunistische Vergangenheit von Westbengalen, die Zauberkraft von Literatur, aber auch um zwei Frauen, die fast ein Jahrhundert trennt.

Von Diana Köhler

„Erschlagt die Armen“ – so heißt der Roman, mit dem Shumona Sinha 2015 bekannt wurde. Ziemlich provokant und wütend schrieb sie darin über das Asylsystem Frankreichs, wie es die Asylsuchenden entmenschlicht, aber auch alle, die in diesem System arbeiten.

Porträt Shumona Sinha

Francesca Mantovani/ Edition Nautilus

Shumona Sinha

Shumona Sinha ist 1973 in Kalkutta geboren und vor 20 Jahren nach Frankreich gezogen. Dort hat sie neben ihrem Literaturstudium bei der Asylbehörde als Dolmetscherin gearbeitet. Nachdem ihr Roman „Erschlagt die Armen“ herausgekommen ist, ist sie sogar entlassen worden. Roman und Autorin wurden damals hart kritisiert – und gefeiert. „Es entlarvt das Asylsystem“, sagen die einen. „Es ist unempathisch und grausam“, sagen die anderen. Schumona Sinha selbst sagt: Heute würde sie das Buch anders schreiben, weniger grausam. Sie wolle nicht, dass ihre Bücher von der falschen Seite vereinnahmt würden, und damit meint sie politisch Rechte.

Das Literarische Westbengalen

Shumona Sinhas neuer Roman „Das russische Testament“ ist in der Tat sanfter, aber nicht weniger politisch: Er handelt vom Erbe der sowjetisch-russischen Literatur in Westbengalen.

Westbengalen ist ein Bundesstaat Indiens, ganz im Osten des Landes. Von 1977 bis 2011, also fast 35 Jahre lang, wurde Westbengalen von der Kommunistischen Partei Indiens regiert. Das ist die längste Regierungsperiode einer demokratisch gewählten, kommunistischen Partei weltweit. Übersetzungen von sowjetischer Literatur ins Bengali wurden von der Sowjetunion gefördert. Sie hätten das Denken vieler Bengal*innen beeinflusst und deren Lebensauffassung geprägt, sagt die Autorin Shumona Sinha. Jede Familie, die Bücher besaß, hatte mindestens ein Regalbrett für russische Bücher reserviert. Sowjetisch-russische Bücher wurden wie selbstverständlich in Westbengalen verkauft.

Shumona Sinha selbst ist mit russisch-sowjetischen Märchenbüchern aufgewachsen. Ihr Vater war Wirtschaftsprofessor und Marxist und brachte Shumona die russische Literatur näher.

Cover

Maja Bechert/Jaya Ramchandani

Erschienen ist der Roman beim Verlag „Edition Nautilus“. Übersetzt hat ihn Lena Müller.

Diese sowjetischen Spuren verarbeitet die Autorin in ihrem Buch: Die Protagonistin Tania ist Tochter eines Buchhändlers in Kalkutta. Dieser verkauft neben benaglischer auch sowjetische Literatur. Tania liest alles, was ihr in die Finger kommt. Die Bücher sind für sie eine Flucht aus der Realität: Tania kann zwar später studieren und engagiert sich sogar in der Kommunistischen Partei. Aber die Grenzen durch Kaste und Geschlecht machen es ihr nicht leicht. Zudem ist sie zu Hause mit einer prügelnden Mutter und ihrem passiven Vater konfrontiert. Die Bücher sind ihre Zufluchtsstätte: Fasziniert von der Welt in ihnen, lernt Tania Russisch.

Die meiste sowjetische Kinder- und Jugendliteratur wurde damals von einem einzigen Verlag herausgebracht: Raduga – auf Deutsch: Regenbogen. Dessen Gründer ist Lew Kljatschko, geboren 1873, fast Stalin zum Opfer gefallen, gerettet durch Maxim Gorki. Tania macht es sich zur Aufgabe, zu suchen, was von Lew Kljatschko übrig ist. Sie verlässt Kalkutta - die Liebe zu den Büchern und die Obsession für einen toten Verleger sind ihre Rettung aus einer Welt, die für sie wenig Gutes bereithält.

Drei Erzählstränge

Tanias Erzählstrang ist verwoben mit der Geschichte von Lew Kljatschko selbst und seiner Tochter Adel. Diese sitzt in einem Altersheim in Sankt Petersburg und blickt auf das Leben ihres Vaters und die Geschichte der Sowjetunion zurück.

Lew Kljatschko, den Verlag Raduga, seine Tochter: Die hat es wirklich gegeben. Shumona Sinha selbst hat die Kinderbücher von Raduga noch im Bücherregal stehen. Die meisten geschichtlichen Ereignisse stimmen, Shumona Sinha lässt sich von der Geschichte inspirieren und setzt sie im Roman neu zusammen. Und wie auch ihre Protagonistin Tania ist sie von Kljatschko fasziniert.

Poetische Sprache

Die Entstehungsgeschichte und die politischen Fakten rund um die Handlung herum sind fast spannender als das Buch selbst: Die Verbindungen zwischen der Sowjetunion und Westbengalen, die derzeitige hindu-nationalistische - manche sagen schon faschistische - indische Regierung, Stalins Kultursäuberungen - das alles greift Shumona Sinha in ihrem Roman auf.

Die poetische, bildhafte Sprache trieft teilweise nur so vor Schmalz, was beim Lesen stört.

„Kleine rote Fahnen wogten fröhlich, wie Klatschmohn im Wind“

„Um Tania herum veränderten sich die Mädchen wie Früchte, die sich nach und nach mit Saft und rosafarbenem Licht vollsaugen.“

Spannende Geschichte - zu wenig Platz

Abgesehen von der Sprache merkt man, Shumona Sinha hat ordentlich recherchiert – es scheint aber, als habe sie unbedingt auch wirklich alles in ihre Geschichte packen wollen. Und das ist einfach zu viel.

Denn „Das russische Testament“ ist nur 180 Seiten kurz. Um allen Erzählsträngen und spannenden Details gerecht zu werden, müsste es fast fünfmal so lang sein. Auf jeden Fall aber inspiriert der Roman dazu, selbst weiterzurecherchieren.

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