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SERIE

Die Doku-Serie „Voir“ lehrt uns Sehen und Staunen

Lang lebe die Cinephilie: David Fincher hat eine Serie coproduziert, in der das Kino in all seinen Facetten gefeiert wird. Mit klugen Sätzen und bestechenden Bildmontagen.

Von Christian Fuchs

Die erste Folge von „Voir“ macht hochgradig sentimental. Die amerikanische Bloggerin Sasha Stone blickt auf ihre Kindheit im Kino zurück. 1975 ist sie zehn Jahre alt und sieht einen Film, der nicht nur ihre kleine Welt verändert. „Jaws“ von Steven Spielberg schreibt als erster echter Sommerblockbuster Geschichte, ein meisterlicher Schocker, der Publikum und Kritik gleichermaßen begeistert.

Stone sieht den Film als Kind etwa 40 mal, ist besessen von dem Mix aus Terror, Entertainment und perfektem Storytelling. Sie trägt alles andere als ein Trauma davon. In der Episode „Summer of the Shark“ der Serie „Voir“ schwärmt die Autorin vom Geruch des Meerwassers in diesem Sommer, vom Geschmack der Eiscreme, von wunderbaren Eindrücken.

All diese positiven Gefühle sind für sie mit „Der weiße Hai“ verknüpft. Aber auch das Wissen, dass dieser Kassenschlager eine Ära eingeleitet hat, in der gnadenlos kommerziell orientierte Produktionen den rebellischen Spirit des New Hollywood ablösten. „Voir“ ist keine bloße Nostalgieshow, wie man anfänglich vermuten könnte, Ambivalenzen sind erlaubt und erwünscht.

Filmstill aus "Jaws"

Universal

„Jaws“

Von der Liebe zum Kino

Sasha Stone schwärmt als eine von einer Handvoll Filmfans in dieser Serie von bewegten Bildern, von Soundtracks - und vor allem von Charakteren. Drew McWeeny, ein anderer Filmblogger, liebt „Lawrence of Arabia“ mit Peter O’Toole, vor allem auch die zwiespältige Titelfigur. Er fragt sich in seiner Episode, warum uns im dunklen Kinosaal besonders die Monster in Menschengestalt so anziehen. Und landet nach dem zerrissenen Offizier Lawrence bei Killerpärchen und Serienmördern.

Eine andere Folge erzählt von der Faszination der Rache als Filmmotiv - und wie sehr wir unterdrückten Gegenwartsmenschen von der hemmungslosen cinematischen Vergeltung träumen. Platitüden fallen dabei wenige, die Off-Kommentare treffen oft klug auf den Punkt. Ein wenig banal wirken nur die Überlegungen zur Attraktivität von Held*innen in einer Animations-Episode.

Wenn zum Finale der Kritiker Walter Chow den Actionthriller „48 Hours“ als faszinierenden Diskurs über den Rassismus feiert - und Hauptdarsteller Eddie Murphy auf das Podest hebt - möchte man den Film sofort (wieder-)sehen. Jede „Voir“-Episode hat ein anderes Thema, eine andere Länge, einen komplett anderen Style. Das gemeinsame Bindeglied der visuellen Essays ist die Obsession für das Kino.

Das Verhältnis von Kino, Fernsehen und Streaming

Es ist natürlich eine besondere Ironie, dass eine Serie, die die Filmkunst zelebriert, ausgerechnet von Netflix präsentiert wird. Für besonders eingefleischte Cineasten gehört der Streaminganbieter zu den Totengräbern des Kinos. Nur eine winzige Anzahl der Spielfilmproduktionen von Netflix hat Chance auf eine kurze Leinwand-Auswertung. Und die kommerziellen Algorithmen der Firma zerstören das Sehverhalten.

Das mag alles stimmen. Andererseits wären umwerfende Filme wie „Roma“ oder heuer „The Power of the Dog“ oder „Don’t Look Up“ nicht ohne das Geld von Netflix entstanden. David Fincher, einer der Produzenten von „Voir“, hat für Netflix bereits gedreht, sowohl einen Oscar-Anwärter („Mank“) als auch Serien wie „Mindhunter“ oder „House of Cards“.

Filmstills aus "Void"

Netflix

„Voir“

Es ist (und bleibt) also kompliziert. Eine der Episoden von „Voir“ dreht sich dann auch um das Verhältnis von Kino, Fernsehen und Streaming. Inhaltlich erfährt man darin wenig Neues, aber auch dieser visuelle Essay besticht durch fantastische Zusammenschnitte. „Voir“ macht ganz große Lust auf Sehen und Staunen.

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